Höflichkeit in der Liebe

Höflichkeit in der Liebe

- der Respekt vor dem intimen Anderen.

Der intime Andere, damit meine ich die Menschen, mit denen man täglich umgeht, die Hausgenossen, mit denen man vertraut ist und die man liebt: die eigene Frau oder der eigene Mann, die Kinder und die Freunde, die man alltäglich um sich hat.
Genügt es denn nicht, daß ich sie liebe und ihnen nahe bin? Wozu Respekt, und was konnte hier Respekt bedeuten?
Gerade wenn man sich liebt, glaubt man keine Grenzen zu brauchen, und man tendiert dazu, immer stärker symbiotisch ineinander zu fließen. »Was dein ist, ist auch mein«, sagt man, oder: »Wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Respekt vor einem Menschen haben heißt zugeben, dass auch der Nahe ein Anderer ist, dass er sein Geheimnis hat und dies bewahren darf, dass er nicht erobert werden und in blanker Offenheit vor einem liegen soll.
Und so wird, wer Respekt kennt, nicht in die Freundschaften des Anderen eindringen, wenn er nicht eingeladen wird; er wird seine Post und sein Tagebuch nicht lesen, auch nicht das der Kinder; er wird nicht alles vom anderen wissen wollen. Er respektiert Grenzen.
Langfristige Lebensverhältnisse brauchen Distanz. Nicht nur Intimität und Nähe sind hohe Güter, ebenso wichtig sind Grenzen, die manrespektiert und die man nicht überschreitet.Der Respekt in intimen Verhältnissen zeigt sich in der Form. Es gibt auf Dauer keine Intimität ohne Struktur, Form und Ritual.
Zunächst liebe ich Respektrituale, weil sie schön sind. Ich habe ein altes Ehepaar vor Augen, das schon lange zusammenlebt. Mich bewegt die Höflichkeit der alten Leute zueinander: ihr Bitte und Danke, wenn sie sich bei Tisch etwas reichen, wie der Mann der Frau in den Mantel hilft, ihr den Stuhl zurechtrückt und sich nicht eher setzt, bevor sie Platz genommen hat....

Fulbert Steffensky
in: Lebenswerte. Orientierung im Wandel, herausgegeben von Klaus Möllering und Ulrich Behlau, Leipzig 2001