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Miteinander ausgerichtet

Miteinander ausgerichtet auf ein Drittes

Bei dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry habe ich den Ausspruch gelesen: Liebe besteht nicht darin, dass wir einander in die Augen sehen, sondern dass wir gemeinsam in die selbe Richtung schauen. Dieser Satz macht mir noch eine dritte heilsame Wirkung eines gemeinsamen spirituellen Weges bewusst.
Paare in der Verliebtheitsphase „schauen einander in die Augen", sie sind sich genug. Diese innige Verbindung geht durch die Ablenkungen und Inanspruchnahmen des Alltags häufig verloren.
Durch Arbeit, Verpflichtungen, Kinder, Beruf wird das Band, das die beiden verbindet, dünner, gegenseitige Entfremdung stellt sich ein und nimmt immer mehr zu. Oft bemerken Paare das nicht, es bleibt ihnen verborgen, bis die Kinder aus dem Haus sind und die meisten der größeren Lebensaufgaben geschafft sind. Da tut sich plötzlich der Graben zwischen ihnen auf. Ihren zweiten Gipfel nach dem Übergang vom Paar zur Familie erreichen die Scheidungszahlen hier bei diesem nächsten Übergang, beim Übergang von der Familien- in die Nachfamilienphase. Hier entdecken viele Partner, dass sie in all den Jahren einander fremd geworden sind und eigentlich nichts mehr da ist, was sie verbindet.

Das zentrale Thema vieler Therapien in dieser Phase lautet: Lässt sich Verbindendes finden - wieder finden oder neu „erfinden"?
Wenn es Partner versäumt haben, schon in der Familienphase über die Kinder und das tägliche Familienmanagement hinaus Gemeinsames weiter zu pflegen oder neu zu entwickeln, gemeinsame Interessen, gemeinsame Engagements, die ihr Zusammenleben zusätzlich mit Sinn erfüllen, kann das ein recht schwieriges Unterfangen sein. Oft machen Therapeuten außerdem die Erfahrung, dass das gemeinsame Dritte quasi „zu niedrig" angesetzt wird. Bloß passiver Konsum zum Bei-
spiel erfüllt das Leben nicht ausreichend mit Sinn, hektische Überaktivität auch nicht. Dadurch wird nicht verhindert, dass Paare stumm nebeneinander her zu leben beginnen und sich immer mehr voneinander entfernen.
Der Psychotherapeut Viktor Frankl hat uns bewusst gemacht, dass wir unser Leben dann als wertvoll erfahren, wenn wir es Wertvollem widmen. Dann erfahren wir Sinn in unserem Leben und Zusammenleben.
Es geht also um ein Engagement für ein wertvolles gemeinsames Drittes.
Wenn dieses gelingt, kann das für eine Paarbeziehung eine immer wieder neu sprudelnde Quelle von Lebendigkeit und Verbindung zueinander sein und werden. Die auf Dauer angelegte Liebesbeziehung braucht für ihre Lebendigkeit immer wieder die Anregung durch solch „Drittes". Paare auf die Suche danach zu schicken, ist darum eine immer wiederkehrende Aufgabe in der Therapie. Dieses wertvolle gemeinsame Dritte kann natürlich auch und vor allem ein gemeinsamer spiritueller Weg sein. Dieses „Dritte" wirkt wie kaum etwas anderes der Tendenz entgegen, in der Betriebsamkeit und täglichen Ablenkung unterzugehen, und kann so zu einer bisher nicht erfahrenen Bereicherung und Vertiefung der Beziehung
beitragen, auch deshalb, weil es eine oft vernachlässigte Dimension im Leben des Paares wieder oder erstmals lebendig macht.
Der gemeinsame spirituelle Weg weckt häufig bei den Partnern das Bedürfnis, zu bestimmten Gelegenheiten auch wieder gemeinsame Rituale zu vollziehen, entweder neue zu entwickeln oder alte wieder zu beleben, zu denen kein lebendiges Verhältnis mehr besteht und die deshalb nur noch äußerlich oder gar nicht mehr vollzogen werden. Die heilsame Wirkung von Paar- und Familienritualen (nicht nur religiöser Art) wird meines Erachtens ganz allgemein unterschätzt.
Sie liegt darin, dass solche Rituale einen immer wieder zur Verfügung stehenden Raum für Lebendigkeit, Festlichkeit und tiefere Begegnung im Leben des Paares entstehen lassen, was in unserer Zeit der Ent-Ritualisierung des individuellen Lebens von nicht geringer Bedeutung ist.

Die Ausrichtung auf eine spirituelle Dimension als gemeinsames Drittes bewirkt zudem eine gemeinsame Perspektive über die täglichen kurzfristigen Ziele und Anliegen hinaus, eine gemeinsame Perspektive, die das Leben als ganzes umfasst. Das kann eine tiefere Verbindung zwischen den beiden schaffen, als es bisher - bei aller Intensität auch in der Phase der Verliebtheit - möglich war. Eine besondere Bedeutung bekommt dies gerade auch angesichts der Erfahrungen von Begrenztheit, Endlichkeit und Verfall. Wenn Paare miteinander einen spirituellen Weg gehen, brauchen sie diese Themen nicht zu tabuisieren und sich dadurch gerade in ihren bedrängendsten Erfahrungen nicht allein zu lassen. Ob mit oder ohne Anleitung eines spirituellen Lehrers oder eines Therapeuten, der sich auch auf diesem Gebiet ein wenig auskennt: Der spirituelle Weg ermöglicht das vertrauensvolle Sich-Einlassen auch auf diese letzten Erfahrungen unseres Lebens im Vertrauen auf das umgreifend Göttliche, das uns auch im Tod umfängt. Das ist wohl die am tiefsten heilsame Wirkung praktizierter Spiritualität in der Paarbeziehung.


Hans Jellouschek
geb. 1939, Dr. theol., Lehrtherapeut für Transaktionsanalyse und Psychotherapeut in eigener Praxis in Ammerbuch bei Tübingen; Autor vieler Publikationen.
Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Paartherapie und in der Fortbildung von Paartherapeuten/-innen. Viele Jahre leitete er die Familienberatungs- und Behandlungsstelle im Psychotherapeutischen Zentrum in Stuttgart. Er beschäftigt sich u. a. auch mit der Frage der spirituellen Dimension in der Paarbeziehung.

aus:
Hans Jellouschek, Peter Schellenbaum, Ken Wilber, und Michael Seitlinger, Was heilt uns? Zwischen Spiritualität und Therapie, Herder Verlag, Freiburg 2006