Auch mir gehen die vielen überschwänglichen Berichte und Beschreibungen durch den Kopf, die ich im Vorfeld über die über die Kathedrale von Chartres gelesen habe. …. 176 Fenster. Nie wieder erreichte Farbmischungen. Chartres noch immer ein Zentrum der Glasmalerei. 58 freistehende Pfeiler, 35 Marienbilder, aber nur drei Kreuzigungsszenen. Fassungsvermögen 12000 Menschen. Dreimal so viele Steine verbaut wie in Reims…. Vor dem Portal… Ich schaue hoch in die achthundert Jahre alten Gesichter. …
Noch einmal einen inneren Anlauf genommen und ich gehe los… und schiebe die schwere Holztür auf, ziehe einen dicken Vorhang beiseite und noch eine letzte dunkle Schwingtür zurück. Dann betrete ich den von Rot, Blau und Grün und Gelb durchlichteten Säulenwald, der voller Stimmen und Schritte ist. Die mich aber nicht stören, weil ich nur noch diese Farben sehe. Den Kopf nach oben gerissen, taumle ich über die blanken Steine. Ich kann es nicht fassen, mich nicht wehren gegen den Sog und die Wucht des Raumes, stürze vorwärts, ohne Orientierung, wie hypnotisiert. Muss mich setzen, weil mir tatsächlich die Tränen kommen. So etwas Schönes wie diese Fenster habe ich noch nie gesehen. Aber gleich darauf erschrecke ich vor dem Gefühl. Ich will es nicht haben. Es ist mir peinlich. Es macht mir Angst. Was geschieht denn hier mit mir? Aber ich kann es nicht bezwingen und vernünftig werden. Die Ecke ist dunkel. Niemand bemerkt meine Glück.“
Rainer Schildberger
