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Suizid

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Suizid

Udo Reiter, 69, ist der aktuell prominenteste und schärfste Vertreter des Rechtes auf Suizid. Dies ist besonders eindrücklich, weil er selber aufgrund eines Autounfalles querschnittsgelähmt ist und bereits 47 Jahre im Rollstuhl sitzt. 20 Jahre lang war er Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks und wurde unter anderem mit dem päpstlichen Gregoriusorden ausgezeichnet.

 

Er sagt u.a.:

„Es geht um Menschen, die nicht todkrank sind, aber in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, sei es, weil sie wie Küng den Verlust ihrer Persönlichkeit im Altwerden nicht erleben wollen, sei es, weil sie einfach genug haben und, wie es im ersten Buch Moses heißt, "lebenssatt" sind. Diese Menschen werden in unserer Gesellschaft alleingelassen. Sie müssen sich ihr Ende quasi in Handarbeit selbst organisieren. Das kann nicht so bleiben. Für diese Menschen muss es Notausgänge geben, durch die sie in Würde und ohne sinnlose Qualen gehen können.“ (Reiter: Selbstbestimmtes Sterben - Mein Tod gehört mir, Süddeutsche Zeitung vom 04.01.2014)

 

 

Aus medizinischer Perspektive sind folgende Zahlen zu beachten. Im Jahr 2009 nahmen sich in Deutschland insgesamt 9.571 Menschen das Leben. (http://www.heilpraxisnet.de/naturheilpraxis/die-haeufigsten-todesursachen-in-deutschland) Das ist ein Anteil von 1,1 Prozent an den Sterbefällen. Ärzte gehen davon aus, dass mindestens 90% aller Suizide von Menschen mit behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen ausgeführt werden. Die bekannteste, die auch den überwiegenden Anteil (65 – 90 %) ausmacht, ist dabei die Depression. (Jox, S.169) Selbsttötungsgedanken und dahingehende Handlungsimpulse sind gerade die Symptome dieser Erkrankung, können gezielt behandelt werden und verschwinden mit nachlassender Krankheit auch wieder.
Daneben gibt es den „philosophischen“ Suizid, bei dem der Betreffende nach Abwägung aller positiven und negativen Aspekte seines Lebens zu einer negativen Bilanz kommt und sich in Folge das Leben nimmt. Dieser ist eine seltene Ausnahme.

 

 

Philosophisch-ethische Diskussion

 

Die Philosophie versucht, den Suizid als Handlung zu beschreiben und zu bewerten mit den Kategorien gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt. Zu allen Zeiten diskutierten Philosophen über die Suizid und seine Bewertung. Die Diskussion wird schon seit Platon geführt und verwendet hauptsächlich folgende Argumente:

 

Individualethisch: Das Leben ist in sich wertvoll als Möglichkeit vieler Möglichkeiten. Der Mensch als Träger des Lebens darf dieses nicht zerstören. Er ist vielmehr verpflichtet, es zu erhalten und zu pflegen und damit sich selbst zu lieben und zu erhalten.

 

Sozialethisch: Der Mensch steht in der Verpflichtung zur Gesellschaft, d.h. zu allen Menschen, mit denen er zusammenlebt. Diesen darf er seinen Beitrag und seine Unterstützung nicht entziehen, indem er sich das Leben nimmt. Der Suizid ist deshalb nicht zu rechtfertigen.

 

Kant als Vertreter der Aufklärung wählt als Ausgangspunkt für seine Argumentationslinie die moralische Handlungsfähigkeit des Menschen. Der Mensch sei herausgefordert, viele Handlungen zu vollziehen und über sie zu entscheiden, ob sie gut und zu tun oder schlecht und zu unterlassen sind. Dabei sei die Entscheidung, sein Leben zu beenden, nicht eine Entscheidung unter vielen, sondern mit dieser Entscheidung werde eine Vielzahl von Möglichkeiten ausgelöscht. Deshalb sei diese Entscheidung keine Ausübung von Freiheit, sondern im Gegenteil ihre Aufhebung. Der Widerspruch des Argumentes, der Suizid sei ein Ausdruck der Freiheit, besteht nach Kant also darin, dass in der Absicht, die Freiheit zu verwirklichen, vielfältige Möglichkeiten von Freiheit zerstört werden.

 

Freiheit als höchster Wert: Reiter knüpft an die philosophische Tradition an, die Freiheit als den höchsten Wert erachtet. Diese Argumentation hat in der zeitgenössischen Diskussion viele Anhänger. Die Autonomie begründet den Suizid als Ausdruck der persönlichen Freiheit für alle Menschen und zwar unabhängig von Erkrankungen – seien sie physisch oder psychisch. Folgerichtig fordert Reiter die Gesellschaft auf, Regelungen dafür zu treffen, dass Sterbewilligen Unterstützer zur Verfügung stehen:

 

„Wer garantiert, dass der Entschluss eines Sterbewilligen nicht nur aus einer vorübergehenden depressiven Verstimmung oder einer momentanen Mutlosigkeit resultiert? Die Antwort lautet: Niemand garantiert das. Es ist die Konsequenz der Freiheit, auch Fehlentscheidungen treffen zu können. Dieses Risiko ist unaufhebbar mit einer freien Gesellschaft verbunden. Es kann nicht das Argument dafür sein, dass andere festlegen, ob und wann wir über uns entscheiden können. Das Prinzip der Selbstbestimmung sollte auch am Ende des Lebens gelten.“ (Reiter: Selbstbestimmtes Sterben - Mein Tod gehört mir, Süddeutsche Zeitung vom 04.01.2014)

 

 

Theologische Argumentation

(Schockenhoff: „Die Frage der Beendigung des eigenen Lebens in Philosophie und Ethik“, Audioprotokoll)

 

Lange Zeit orientierte sich die Argumentation der katholischen Kirche an der Beziehung zwischen Mensch und Gott, die in rechtlichen Kategorien beschrieben wurde: Gott als Schöpfer ist Herr über Leben und Tod. Er gab dem Menschen das Leben als Leihgabe. Wer sich selbst das Leben nimmt, greift damit in das alleinige Verfügungsrecht Gottes über das Leben schlechthin ein. Deshalb kann der Suizid nicht gerechtfertigt werden. Der Mensch hat die Pflicht, das Leben zu pflegen und zu erhalten. Er darf es nicht zerstören, denn dies wäre ein Eingriff in das Hoheitsrecht Gottes über das Leben. Auf der Grundlage dieser Argumentation, die auf Thomas von Aquin zurückgeht, wurden Suizidenten als Sünder angesehen, denen sogar das Recht auf eine kirchliche Beerdigung abgesprochen wurde.

 

Die Perspektive auf den Suizid hat sich in der jüngeren Theologie in doppelter Weise verändert:

 

Die Beziehung zwischen Mensch und Gott wird als eine personale Beziehung verstanden und erfahren. Gott wendet sich jedem einzelnen Menschen zu, begegnet ihm mit seiner Liebe und Fürsorge und sagt zu ihm sein unbedingtes Ja. Der Mensch ist vor Gott für sein Tun verantwortlich. Wer sich für den Suizid entscheidet, beurteilt damit sein eigenes Leben als unheilvoll. Der Suizid macht die Hoffnung auf Gott, seine Liebe, Fürsorge und Treue und sein Vertrauen zunichte und ist eine Absage an die Hoffnung und das Vertrauen zu Gott.

 

Zum zweiten hat sich die Sichtweise auf den Suizidenten selbst verändert – eine Entwicklung, die auch in gesellschaftlichen Kontexten festzustellen ist:

 

„In der Selbsttötung verneint ein Mensch sich selbst. Vieles kann zu einem solchen letzten Schritt führen. Doch welche Gründe es auch sein mögen – keinem Menschen steht darüber von außen ein Urteil zu. Die Beweggründe und die Entscheidungsmöglichkeiten eines anderen bleiben ebenso wie eventuelle Auswirkungen einer Krankheit im letzten unbekannt.“ („In Würde sterben – in Hoffnung leben“, S. 32 f.)

 

Da es keine Einsicht die Motive und die Entscheidung des Einzelnen gibt, können diese Motive auch nicht moralisch bewertet (und verurteilt) werden. Dennoch gilt:

 

„Wir können über unser eigenes Leben nicht grenzenlos verfügen. Genauso wenig haben wir das Recht, über den Wert eines anderen menschlichen Lebens zu entscheiden.“ (Christliche Patientenvorsorge, S. 11)

 

 

Resümee


Es gilt also zu differenzieren: Ist jeder Wunsch nach Suizid tatsächlich bereits Ausdruck der Freiheit und der Selbstbestimmung? Wenn man den oben angeführten Zahlen Glauben schenkt, dann braucht der überwiegende Anteil der Suizidalen nicht Hilfe, um den Suizid zu vollenden, sondern Therapien, die die Depression gut behandeln und Wege aus der Erkrankung ebnen. Es sind zahlenmäßig die wenigsten Suizide, die aufgrund einer rein rationalen Bilanz erfolgen und als solche freiverantwortliche Entscheidungen zu sein scheinen. Wie Herr Reiter alle Suizide als Ausdruck einer freien Entscheidung und bereits deshalb als gerechtfertigt zu werten, verkennt die Not, die oftmals zu einem solchen Handeln führt. Es wäre also äußerst verhängnisvoll, sich mit dem Todeswunsch schwerkranker Patienten vorschnell zu identifizieren und sie allein darin zu unterstützen.

 

Andererseits wird es immer Menschen geben, die keinen Weg finden, die Last ihrer schweren Erkrankung tragen zu können und sich deshalb für den Freitod entscheiden. Der Suizid wird von der katholischen Moraltheologie negativ bewertet, ohne den Suizidwilligen zu verurteilen. Dabei ist es unerheblich, ob der Hintergrund eine seelische Erkrankung ist, oder eine andere schwere Erkrankung, die zu tragen sich der betroffene Mensch nicht mehr in der Lage sieht.


Wie soll aber eine freiheitliche Gesellschaft mit Suizidwilligen umgehen, die das Recht auf den Freitod für sich und im Allgemeinen fordern? Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie und Mitglied im Nationalen Ethikrat, gibt darauf folgende Antwort (Schockenhoff: „Die Frage der Beendigung des eigenen Lebens in Philosophie und Ethik“): Unsere Gesellschaft in der Bundesrepublik ist gegründet auf die Achtung vor der Würde jedes Menschen, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Individuellen. Die Würde des Menschen als die Achtung vor dem Leben eines jeden Menschen ist von Staat sichtbar und auch symbolisch zu vertreten. Dies zeigt sich letztlich in der Pflicht, Suizide zu verhüten. Suizidenten, die den Suizid überlebt haben, stimmen in der Regel ihrer Rettung im Nachhinein zu. Damit ist also alles Handeln, das einen Suizid zu verhindern sucht, als Appell an die künftige Selbstbestimmung zu betrachten.

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