1 00:00:00,000 --> 00:00:02,965 Liebe Schwestern, liebe Brüder. 2 00:00:02,965 --> 00:00:09,283 Eine der  Weihnachtskarten, die ich zum Ende des letzten Jahres zugeschickt bekommen habe, 3 00:00:09,283 --> 00:00:14,611 zeigt die Heilige Familie mit der Erdkugel in Händen. 4 00:00:14,611 --> 00:00:23,258 Eine zeitgenössische Künstlerin hat die Welt so  brüchig gestaltet, wie sie in vielerlei Hinsicht geworden ist. 5 00:00:23,258 --> 00:00:32,002 So jedenfalls auch mein Empfinden.  In ihrem Bild droht der Erdball förmlich auseinanderzubrechen. 6 00:00:32,002 --> 00:00:40,584 Doch da sind kleine und große Hände, die den Erdball stützen. Frauenhände, Männerhände, Kinderhände. 7 00:00:40,584 --> 00:00:49,529 Behutsam halten Maria, Josef und das Christuskind zusammen, was kaum noch zusammenzuhalten ist. 8 00:00:49,529 --> 00:00:52,954 Eine Welt, von Rissen durchzogen. 9 00:00:52,954 --> 00:01:00,120 Schaue ich auf die einzelnen Risse in der Mitte des Bildes,  das mich nun seit schon einigen Wochen begleitet, 10 00:01:00,120 --> 00:01:05,718 dann tauchen bestimmte Realitäten vor meinem inneren Auge auf. 11 00:01:05,718 --> 00:01:11,639 Menschen auf der Flucht weltweit und auch bei uns. 12 00:01:11,639 --> 00:01:18,258 Eine sich mehr und mehr verschärfende Klimakrise, weltweit und auch bei uns. 13 00:01:18,258 --> 00:01:25,000 Menschen, die auf der Straße leben.  Weltweit und auch bei uns. 14 00:01:25,000 --> 00:01:33,104 Ihre Lebenssituation hat sich wie die so vieler Menschen in der  Corona-Krise dramatisch zugespitzt. 15 00:01:33,104 --> 00:01:36,115 Weltweit und auch bei uns. 16 00:01:36,115 --> 00:01:45,096 Immer extremer agierende Kräfte in Politik und Gesellschaft höhlen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aus, 17 00:01:45,096 --> 00:01:53,496 schüren Ausgrenzung und Hass und setzen gezielt auf Angst und die Spaltung ganzer Gesellschaften. 18 00:01:53,496 --> 00:01:57,137 Weltweit und auch bei uns. 19 00:01:57,137 --> 00:02:02,674 Und dann sind da tiefe Risse, die durch unser Erzbistum gehen. 20 00:02:02,674 --> 00:02:08,307 Ich habe sie nicht nur vor Augen. Nein, ich spüre sie jeden Tag. 21 00:02:08,307 --> 00:02:18,634 Den Verdacht von Vertuschung im Kontext der Aufarbeitung von Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und pädophilen Verbrechen. 22 00:02:18,634 --> 00:02:25,397 Den gravierenden Vertrauensverlust, die fehlende Akzeptanz und die Frustration, 23 00:02:25,397 --> 00:02:35,230 weil wir in unserer pastoralen Entwicklung nicht so vorankommen, dass wir uns wirklich miteinander auf dem Weg wissen. 24 00:02:35,230 --> 00:02:39,568 All das bewegt und bedrückt mich sehr. 25 00:02:39,568 --> 00:02:42,975 Unser Miteinander, das trotz mancher Kontroversen 26 00:02:42,975 --> 00:02:48,552 eine verlässliche Grundlage für unser Ringen um Gegenwart und Zukunft der Kirche 27 00:02:48,552 --> 00:02:54,734 und unseren Beitrag in der  Welt sein sollte, ist empfindlich gestört.   28 00:02:54,734 --> 00:03:01,034 Dabei weiß ich, dass viele Menschen in unserem  Erzbistum und darüber hinaus 29 00:03:01,034 --> 00:03:05,541 mich persönlich dafür verantwortlich machen.  30 00:03:05,541 --> 00:03:12,907 Liebe Schwestern, liebe Brüder, Sie haben mir in den letzten Wochen und Monaten geschrieben, 31 00:03:12,907 --> 00:03:18,965 mich besucht oder mich am Rande verschiedener Termine angesprochen. 32 00:03:18,965 --> 00:03:26,594 Sie tun sich schwer, nachzuvollziehen, warum es  eine zweite unabhängige Untersuchung braucht,   33 00:03:26,594 --> 00:03:37,823 um die systemischen Zusammenhänge jahrzehntelangen  Missbrauchs in unserem Erzbistum aufzudecken und im Detail aufzuzeigen. 34 00:03:37,823 --> 00:03:43,712 Tatsächlich benötige ich als Bischof hinsichtlich aller relevanten Personen 35 00:03:43,712 --> 00:03:49,120 eine bestimmte qualitative und quantitative Faktenlage, 36 00:03:49,120 --> 00:03:56,423 die ein klares und konsequentes Veränderungshandeln dann auch nachhaltig möglich macht. 37 00:03:56,423 --> 00:04:02,800 Zudem mahnen Sie mehr Gelegenheiten und andere Möglichkeiten an als bisher 38 00:04:02,800 --> 00:04:12,239 für Begegnung und Gespräch sowie die Beteiligung an den Entscheidungen zu den anstehenden pastoralen Veränderungen.   39 00:04:12,239 --> 00:04:15,714 Beides ist ungemein wichtig und drängend. 40 00:04:15,714 --> 00:04:19,528 Die konsequente und transparente Aufklärungsarbeit 41 00:04:19,528 --> 00:04:26,321 genauso wie eine Pastoralentwicklung, die ernst nimmt, dass es Veränderungen braucht,   42 00:04:26,321 --> 00:04:33,870 wenn wir unserem kirchlichen Leben möglichst breit  in die Zukunft verhelfen wollen. 43 00:04:33,870 --> 00:04:40,000 Doch die Zeit, die jetzt vor uns liegt, braucht zunächst  das eine vor dem anderen. 44 00:04:40,000 --> 00:04:48,494 Denn nichts schürt mehr Misstrauen und zunehmend auch Hass als  die Ungewissheit und die Verdächtigungen 45 00:04:48,494 --> 00:04:56,000 im Blick auf die Ergebnisse der von mir in Auftrag  gegebenen zweiten unabhängigen Untersuchung 46 00:04:56,000 --> 00:05:02,582 zu den Missbrauchszusammenhängen. Diese werden am 18. März öffentlich. 47 00:05:02,582 --> 00:05:12,155 Zeitnah wird dann neben dem veröffentlichten Kölner auch das Münchener Gutachten zur Einsicht freigegeben. 48 00:05:12,155 --> 00:05:18,618 Zuerst für die Betroffenen und dann auch für Journalisten und weitere Interessierte. 49 00:05:18,618 --> 00:05:27,923 Das wird uns hoffentlich helfen, wieder neu aufeinander zuzugehen und uns  wieder bereitwilliger zuzuhören 50 00:05:27,923 --> 00:05:32,220 in den Anliegen, die uns bewegen. 51 00:05:32,220 --> 00:05:42,075 Liebe Schwestern, liebe Brüder,  es war und ist meine Absicht, eine transparente, konsequente Aufklärung 52 00:05:42,075 --> 00:05:49,391 der Missbrauchsvergehen und  ihrer systemischen Umstände in unserem Erzbistum zu erreichen. 53 00:05:49,391 --> 00:05:53,365 Selbstverständlich auch im Blick auf meine eigene Person. 54 00:05:53,365 --> 00:06:03,815 Ebenso war und ist es meine Absicht, mit ihnen allen gemeinsam  einen geistlichen Weg in die Zukunft unserer Ortskirche zu gehen. 55 00:06:03,815 --> 00:06:09,284 Dabei werden wir nicht an Strukturveränderungen vorbeikommen. 56 00:06:09,284 --> 00:06:14,513 Doch sie sind nicht das Herzstück des Pastoralen Zukunftsweges.  57 00:06:14,513 --> 00:06:20,078 Pfarrei- und Gemeindestruktur, Verwaltung, Finanzen, kirchliche Einrichtungen, 58 00:06:20,078 --> 00:06:28,167 all das soll  unser Leben aus dem Glauben unterstützen, nicht zerstören, wie es manche von Ihnen empfinden. 59 00:06:28,167 --> 00:06:34,645 Vielmehr geht es darum, verantwortungsvolle und  solidarische Entscheidungen zu treffen, 60 00:06:34,645 --> 00:06:39,897 mit denen wir uns für die Jahre und Jahrzehnte, die vor uns liegen, 61 00:06:39,897 --> 00:06:46,658 eine realistische Basis für die Gestaltung  unseres kirchlichen Lebens schaffen. 62 00:06:46,658 --> 00:06:55,894 Damit diese Vorhaben wieder eine neue Grundlage für uns alle  erhalten, braucht es mehr als Worte 63 00:06:55,894 --> 00:07:01,933 und auch mehr als diesen Brief von mir. Dessen bin ich mir sehr bewusst. 64 00:07:01,933 --> 00:07:10,093 Wir können und dürfen die Risse, die da sind, nicht einfach überspringen oder zukitten. 65 00:07:10,093 --> 00:07:18,718 Wir brauchen das offene Gespräch und ein ehrliches Abwägen der Sachverhalte und Notwendigkeiten, 66 00:07:18,718 --> 00:07:29,530 bevor wir die Entscheidungen etwa zur Pfarreireform endgültig treffen, das möchte ich Ihnen hiermit zusagen. 67 00:07:29,530 --> 00:07:35,259 An dieser Stelle möchte ich für mich persönlich auch sagen,  dass ich während meines ganzen Leben 68 00:07:35,259 --> 00:07:40,774 in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer wieder  auch Fehler gemacht habe. 69 00:07:40,774 --> 00:07:52,492 Auch in den Jahren als Erzbischof von Köln. Mal leichter, mal schwerer.  Das trage ich mit mir als Mensch und als Bischof.   70 00:07:52,492 --> 00:07:58,139 Fehler habe ich ganz sicher auch im Rahmen der  Aufarbeitung der Missbrauchsvergehen 71 00:07:58,139 --> 00:08:06,840 sowie dem damit verbundenen Krisenmanagement gemacht. Sicher habe ich hier auch Schuld auf mich geladen. 72 00:08:06,840 --> 00:08:15,460 Das alles tut mir von Herzen leid. Aber ich möchte  Ihnen dennoch auch versichern: 73 00:08:15,460 --> 00:08:25,250 Es ging und es geht mir weiterhin ausschließlich um konsequente  Aufarbeitung und dabei zuerst und zuletzt darum,   74 00:08:25,250 --> 00:08:31,796 dass das Leid der Betroffenen das Handeln bestimmt  und nichts anderes. 75 00:08:31,796 --> 00:08:39,920 So sind es die tiefen und die empfindlichen Risse, die ich im glaubenden  Vertrauen mit auf den Weg nehmen möchte,   76 00:08:39,920 --> 00:08:46,017 der jetzt unmittelbar vor uns liegt. Auf Ostern  zu. 77 00:08:46,017 --> 00:08:54,418 Liebe Schwestern, liebe Brüder. Was bewegt Sie? Was tragen Sie auf dem Weg nach Ostern mit sich? 78 00:08:54,418 --> 00:08:58,782 Vermutlich werden viele von ihnen schon seit Monaten 79 00:08:58,782 --> 00:09:07,213 das Leben im eingeschränkten Corona-Modus wie eine Fastenzeit erleben, bis hin zu existenzieller Not. 80 00:09:07,213 --> 00:09:14,409 Mühevoll ist unter diesen Umständen auch die Gestaltung unseres kirchlichen Alltags geworden. 81 00:09:14,409 --> 00:09:20,000 Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie nach den langen Pandemiemonaten,   82 00:09:20,000 --> 00:09:26,909 die bereits hinter uns liegen, diese Mühe nicht scheuen, sondern ganz im Gegenteil,   83 00:09:26,909 --> 00:09:35,000 mit viel Herz und Leidenschaft dafür sorgen,  dass unsere kirchlichen Räume so gestaltet sind,   84 00:09:35,000 --> 00:09:42,380 dass Menschen sie gern aufsuchen als  heilsame Orte des Glaubens und des Lebens,   85 00:09:42,380 --> 00:09:51,933 als Orte der Begegnung mit Gott und untereinander,  als Orte der Trauer, des Trostes und des Glücks,   86 00:09:51,933 --> 00:10:04,375 als Orte der Stille und des Mut machenden Austausches. Letztlich als Orte des Lebens, stärker als der Tod. 87 00:10:04,375 --> 00:10:10,370 Unsere von Rissen durchzogene Welt und unser von Rissen durchzogenes Erzbistum   88 00:10:10,370 --> 00:10:17,721 braucht diese österlichen Orte, an denen  österliche Menschen anzutreffen sind. 89 00:10:17,721 --> 00:10:26,265 Menschen, die ihre Wundmale nicht verstecken. Menschen, bereit zu Buße, Umkehr und Versöhnung. 90 00:10:26,265 --> 00:10:37,554 Menschen, offen für Wunder. Menschen mit Leidenschaft für  Gott und die Welt. Menschen, die das Leben lieben.   91 00:10:37,554 --> 00:10:45,830 Dass wir immer mehr zu solch österlichen Menschen  werden, dazu erbitte ich Ihnen wie mir den Segen   92 00:10:45,830 --> 00:10:55,090 des dreieinen Gottes, des Vaters und des Sohnes  und des heiligen Geistes. Amen. 93 00:10:55,090 --> 00:11:01,206 Köln. Am Fest der Darstellung des Herrn 2021 94 00:11:01,206 --> 00:11:06,622 Ihr Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln.