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Leben mit Depression:Halt finden in haltlosen Zeiten

Ein Foto zeigt eine Frau sitzend auf einer Fensterbank, die aus dem Fenster schaut.
Adelheid Zimmermann hat gelernt, mit ihren Depressionen zu leben. Halt fand sie dabei auch in der „Jungen Kirche Bonn“, dem katholischen Jugendzentrum am Bonner Münster, in dem sie heute mitarbeitet.

Nur daliegen. Auf dem Fußboden. Denn die Seele schafft es nicht mehr, den Körper ins Bett zu bewegen. Adelheid Zimmermann weiß, wie sich das anfühlt, wenn gar nichts mehr geht, wenn auch die kleinste Bewegung nicht mehr möglich ist. Sich kämmen – ein Kraftakt. Essen, trinken, sich anziehen, im Alltag funktionieren: In den schwärzesten Augenblicken wird das alles zu einem unüberwindlich scheinenden Berg, der sich vor ihr auftürmt. Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Seit einem Jahrzehnt lebt die 25-jährige Studentin, die im EKKO, der „Jungen Kirche Bonn“, mitarbeitet, mit Depressionen. Schon in der Schule habe sie nicht „dazugepasst“, erinnert sie sich. „Ich war die unfassbar Uncoole, seit der ersten Klasse.“ Sie habe aber selbst dazu beigetragen, meint sie. Wenn es ihr zu laut und zu viel wurde oder etwas nicht passte, reagierte die Schülerin schon mal mit Stühlewerfen. Heute weiß sie, dass das mit ihrer Hochsensibilität zusammenhängt. „Mein Problem war eine völlige Überforderung, gerade durch Überreizung“, sagt sie. Nur ihre beiden Geschwister konnten sie damals auffangen.

Hilfe durch die Lehrerin

Mit 16 Jahren merkt Adelheid Zimmermann, dass es nicht mehr geht. Sie vertraut sich ihrer Physiklehrerin an, sagt: „Ich weiß gar nicht, was ich hier noch soll.“ Mehrfach hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. „Aber nicht, weil ich nicht mehr leben wollte, sondern weil ich nicht wollte, dass es so bleibt, wie es war. Das hat mir meine Psychologin später erklärt.“ In „fürchterlichen Momenten“ denkt sie heute daran – und weiß: Es werden auch wieder andere, bessere Tage kommen.

Bei einem Gespräch mit Zimmermanns Mutter unterstützt die Lehrerin sie damals dabei, eine Entscheidung zu treffen. „Meine Mutter ist ein extrem rationaler Mensch. Sie hat zwar gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber sie konnte es nicht nachvollziehen.“ Neun Wochen lang wird die Schülerin danach stationär in einer Klinik behandelt. Zum ersten Mal bekommt sie das Gefühl „Es kann mir auch mal schlecht gehen. Das ist okay“. „Das war sehr schön zu erleben“, sagt sie. Die Distanz von zu Hause tut ihr gut. Die Eltern sind geschieden, haben ihre eigene Geschichte mit Depressionen. Das weiß Adelheid Zimmermann heute – und steht nun ihrerseits ihrem Vater in einer Phase der Lebensveränderung bei.

Einsam in der Coronazeit

Doch das, was sie damals gelernt hat über sich und ihre Krankheit, hilft ein paar Jahre später nicht mehr. Der Studienbeginn in einer fremden Stadt, die zunächst falsche Studienwahl

Latein und dann die Coronapandemie haben die junge Frau aus Ostwestfalen-Lippe erneut in eine tiefe Depression und in Einsamkeit gestürzt. „Ich war total panisch und habe mit niemandem gesprochen“, erzählt sie. Halt findet sie nur bei ihrer besten Freundin, die sie im ersten Semester kennengelernt hat, und in ihrem Glauben, den beide teilen. Oft sprechen die beiden jungen Frauen darüber. „Sie ist zwar konservativer als ich, aber auf der anderen Seite so unfassbar weltoffen und herzlich, dass ich gemerkt habe: Kirche kann auch so sein! Das kannte ich so nicht aus meiner Heimat.“ Einst war sie Messdienerin, mit den Geschwistern beim Sternsingen dabei und vielfältig in der Gemeinde aktiv. Aber nach einem Affront durch den Pfarrer beenden alle drei ihr Engagement.

Ein Wendepunkt kommt an einem Sonntag, als Adelheid Zimmermann durch die Bonner Innenstadt spaziert und ins Münster geht. Es ist Jugendmesse im Altarraum, und sie setzt sich unten in eine Bank. Einer der Teilnehmer lädt sie ein, mit in den Hochchor zu kommen und im Anschluss an den Gottesdienst mit zu einem Picknick im Hofgarten. „Seitdem bin ich immer dabei“, erzählt die junge Frau, die auch wieder als Messdienerin aktiv ist.

„Ich gehöre dazu“

Es dauert da noch einige Zeit, aber nach einer Taizéfahrt mit der Gruppe zu Ostern sagt sie zum ersten Mal: „Das sind meine Freunde.“ Das Schönste ist für sie die Erfahrung „Ich kann so sein, wie ich bin. Ich gehöre dazu“. Adelheid Zimmermann nennt sich selbst „Psycho“. Wer ihr gegenübersitzt, erlebt eine ernsthafte, sehr reflektierte, feinfühlige und zugewandte junge Frau. Seit dem vergangenen Jahr geht es ihr viel besser, erzählt sie. Im EKKO, dessen Name sich vom griechischen Wort für Kirche, Ekklesia, ableitet, schaut sie heute nach neuen Gästen, überlegt, wer zu welcher Gruppe passen würde. Dabei muss sie immer auf sich, auf ihre Balance achten. Denn die Depressionen bleiben. Und auch ihre Sensibilität und starke Aufnahmefähigkeit für Gespräche und Reize um sie herum. Ihre Freunde passen mit auf sie auf. „Wenn sie – manchmal vor mir – merken, dass es mir schlecht geht, lassen sie mich nicht allein nach Hause gehen. Sie sagen: Und wenn du nur in der Ecke sitzt und heulst – du bleibst bei uns.“

Acht Stunden in der Woche arbeitet Zimmermann im EKKO. Sie engagiert sich nicht nur in dem kleinen Cafébereich, sondern auch bei der Organisation von Veranstaltungen wie dem zweiten EKKO-Geburtstag oder der Allerheiligen-Party. In diesem Jahr hat sie zudem eine Wallfahrt nach Kevelaer organisiert. Dorthin ist sie früher einmal im Jahr mit ihrer Mutter gefahren. Die Schutzmantelmadonna hat es ihr angetan. Und auch sonst hat Adelheid Zimmermann ein enges Verhältnis zu Maria. Bei ihr kann sie alles abladen, über das sie mit ihrer eigenen Mutter nicht sprechen kann oder möchte. Einen Rosenkranz hat sie immer dabei. Er hilft ihr auch in Momenten der Überlastung als Anker.

Adelheid Zimmermann wäre eine gute Seelsorgerin. Aber sie hat sich für ein Studium der Osteuropäischen Geschichte entschieden. „Eine Pfarrerin, die mit meiner Mutter befreundet ist, hat mich schon mal gefragt, ob ich nicht konvertieren und Pastorin werden will“, erzählt sie. Und als Kind habe sie auch davon geträumt und sich beim jährlichen Familienausflug nach Paderborn schon die Priestergewänder ausgesucht. Konvertieren kommt für sie aber nicht infrage. „Dann müsste ich ja meine Maria aufgeben. Und meine Heiligen“, sagt sie mit Blick darauf, dass in der evangelischen Kirche Maria und die Heiligen nicht als Fürsprecher im Gebet angerufen werden. Neben ihrer Namenspatronin, der heiligen Adelheid von Burgund, schätzt Adelheid Zimmermann vor allem den heiligen Antonius und die biblische Rut. „Das ist das schönste Buch der Bibel, weil es da mal nicht um Tod und Verderben geht, sondern einfach nur um Liebe. Und eine größere Liebe als die von Gott zu den Menschen kann es doch gar nicht geben!“ 

Hilfe für Betroffene

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