Buchtipp:Wie man zu spät kommt und trotzdem Erster wird

Das hatte sich der Vierte König nicht träumen lassen: Nach 30 Jahren der Suche hat er nun endlich den damals in Bethlehem geborenen Gottkönig gefunden – aber als Erwachsenen, an ein Kreuz genagelt und sterbend. Und ihm selbst, dem Vierten König, ist es nicht viel besser ergangen: Er hat es noch bis zum Kreuz geschafft, ist aber dann zusammengebrochen. Sein Versuch, dem Stern von Bethlehem folgend, zusammen mit den Heiligen Drei Königen die Krippe zu erreichen, war schon lange zuvor gescheitert. Drei Jahrzehnte zu spät trifft er nun auf die gesuchte Person. Der pausenlose Einsatz für die Armen und Gequälten hatte seine Lebenszeit gefordert und seine Gesundheit ruiniert. Der kleine König ringt um sein Leben und führt einen letzten Dialog mit Christus am Kreuz. Er entschuldigt sich dafür, dass er alle Geschenke, die er für den Neugeborenen eingepackt hatte, im Laufe der Jahre an die Hilflosen und Verfolgten weggegeben hat. Keine Perle, kein Edelstein und kein Goldkörnchen sind übrig geblieben. Er kann dem Gekreuzigten nur noch sein Herz schenken. Dessen Antwort ist kein Vorwurf. Er lässt den kleinen König wissen: Alles, was er den Hilflosen Gutes getan habe, habe er ihm getan. Seinen Schöpfer und Gott zu ehren und zu lieben, ist eben nicht möglich, wenn man am Leid seiner Mitmenschen gedanken- und interesselos vorbeigeht. Gottesliebe setzt die Nächstenliebe voraus. Ja, Gottesliebe kann es ohne Nächstenliebe gar nicht geben. „Was du einem der geringsten Brüder (und Schwestern) getan hast, hast du mir getan“, hatte Jesus gelehrt.
Die Leserinnen und Leser haben es längst bemerkt: Die Erzählung um den Vierten oder kleinen König ist fiktiv. Aber sie ist genial, weil sie klarmacht: Wir können die Krippe nicht mehr mit den Heiligen Drei Königen erreichen. Das ist Vergangenheit. Unser eigener Weg besteht aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Unsere Mitmenschen sind unsere Geschwister. Sie zu lieben, selbst wenn sie uns feindlich gesinnt sind, ist unser Weg in den Himmel.
Die Idee einer Geschichte mit einem vierten König ist einem presbyterianischen Pfarrer am Ende des 19. Jahrhunderts gekommen. Was Henry van Dyke 1895 als Roman veröffentlichte, vagabundierte über Jahrzehnte als „alte russische Legende“ durch die Welt und berührte die Menschen tief. Sie war Auslöser für neue Romane, Schulbuchgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele, Musikaufführungen und vieles mehr. Alle Stücke feiern das Paradoxon: Man kann wie der Vierte König zu spät kommen und trotzdem der Erste sein, der den „Highway to Heaven“ begeht.
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