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Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Weish 11, 20) – Ein Kelch in St. Sebastian in Bonn-Poppelsdorf

St. Karl Borromäus, Köln-Sülz, Gemälde Maria mit Kind und Rosenkranz
Datum:
1. Aug. 2023
Objekt des Monats – August 2023

Josef Hugger, Rottweil, 1910-1919
Silber (800), Amethyst, Granat, Saphir o. Iolith (?),
vergoldet, emailliert, graviert
Unter dem Fuß signiert: JOS . HVGGER . / R. / 800 Mond Krone (Feingehaltsangabe Silber)

Der Messkelch, der zu den würdevollen, heiligen Gefäßen, den Vasa Sacra, zählt, dient in der Eucharistiefeier der Aufnahme, Konsekration und Ausspendung des Messweines. Mit den Einsetzungsworten „Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das Blut des Bundes“ (Mt 26, 27-28) vergegenwärtigen sich durch den Kelch sowohl der Kreuzestod Jesu als auch das Versprechen der Erlösung. So lautet die zweizeilig emaillierte Inschrift auf der Kuppa eines silbernen Kelches der Kirche St. Sebastian in Bonn-Poppelsdorf:

(+) CALICEM . SALVTARIS . ACCIPIAM . ET . NOMEN . DNI . INVOCABO („Den Kelch des Heils will ich nehmen, und den Namen des Herrn anrufen.“)

(+) CALIX . MEVS . INEBRIANS . QVAM . PRAECLARVS . EST („Dieser Kelch der mich tränkt, wie herrlich er ist!“)

Über einem weiten, konisch ansteigenden Rundfuß mit Edelsteinbesatz und Emaildekor erhebt sich über flachkegeliger Basis der schlanke Röhrenschaft mit einem beidseitig angeschrägten, linsenförmigen Nodus mit vegetabiler Gravur. Ein kurzes, mit zargengefassten Granatcabochons besetztes Halsstück leitet über zur trichterförmigen Kuppa, die um einen emaillierten Kuppakorb ergänzt wird.

Trotz seines beinahe vollflächigen Dekors wirkt dieser harmonisch proportionierte Kelch nicht überladen oder unruhig. In seiner klar definierten, nüchternen Form, in seiner edlen Strenge und den ausgewählten Motiven präsentiert er sich in einer vornehm erhabenen Feierlichkeit, der etwas Transzendentes anhaftet. So, als würde er in seiner reduzierten, sich zurücknehmenden Form einen neuen Erfahrungsraum öffnen.

Das Unfassbare in einer Erneuerung der christlichen Kunst fassbar zu machen, war das Ziel des Benediktiners Pater Desiderius Peter Lenz (1832-1928). Er suchte nach einem künstlerischen Ausdruck, um der göttlichen Wahrheit gerecht zu werden und fand ihn, angeregt durch Studien der ägyptischen Kunst, in den Gesetzen der Geometrie. Besonders die fünf platonischen Körper Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder, also die Polyeder mit größtmöglicher Symmetrie, dienten ihm bei der Entwicklung seines verbindlichen, auf strenger Abstraktion aufbauenden stilistischen Kanons als Ausgangspunkt.

Lenz‘ kunsttheoretisches Programm bildete die Grundlage der sogenannten „Beuroner Kunstschule“, die sich in der 1863 neu gegründeten Benediktinerabtei Beuron mit seinem Eintritt in das Kloster im Jahr 1872 formierte. Neben bedeutenden Wandmalereien, wie jenen in der Abteikirche und Gnadenkapelle des Klosters selbst, der Mauruskapelle bei Beuron (1869-1870) oder des Erzklosters des Benediktinerordens auf dem Montecassino (1874-1879), wurden im Sinne des Gesamtkunstwerks auch Skulpturen und christliche Geräte geschaffen. Ab 1903 konnte auch die Goldschmiedekunst, für deren Ausführung man vorher auf auswärtige Goldschmiede angewiesen war, in der klostereigenen Werkstatt gefertigt werden. Bruder Bernward (geb. August) Fleckenstein, war der erste Goldschmiedemeister der Beuroner Kunstschule, der eigene Entwürfe sowie vor allem solche der Mitbrüder P. Andreas Göser und P. Paulus Krebs in herausragendem handwerklichen Können umsetzte. Von P. Krebs hat sich das Entwurfsblatt eines Kelches für Papst Pius X.[1] aus dem Jahre 1910 erhalten, das dem Poppelsdorfer Kelch sehr ähnelt.

Das Lenz‘sche Konstruktionsschema, dem viele bedeutende Werke der Beuroner Schule zugrunde liegen, und das in der Verschränkung zweier Hexagramme verbildlicht werden kann (s. Abb.), lässt sich eindeutig auch auf den Kelch in St. Sebastian in Bonn anwenden: Die Mittellinie der verschränkten Hexagramme trifft sich genau in der Mittelachse des Nodus. Von hier aus bezeichnen die Hexagrammspitzen jeweils die abschließenden Maße von Kuppa und Fuß. Die obere bzw. untere Querlinie der Hexagramme definiert wiederum die Positionen von Kuppaüberfang, Inschrift, Dekor, Schaft und Fußhöhe.

Neben den charakteristischen Idealproportionen des Kelchaufbaus hat auch die dekorative Ausgestaltung eine eigene Beuroner Sprache. Die Edelsteincabochons in schlichten Zargenfassungen gruppieren sich streng zu Flächen aus drei mal drei Edelsteinen, alterniert von einem größeren Stein, wobei die Zahl Drei für Dreifaltigkeit steht, während die Zahl Eins Gott zugehörig ist. Das Email zeigt polychrom ausgeführte Evangelistenmedaillons im Wechsel zu vegetabilen Motiven. In diesen wird der altägyptische Stil, der sich durch zweidimensionale, geometrisch stilisierte Motive auszeichnet, und in dem die Ausführungen von Peter Lenz seinen Ursprung haben, sichtbar. Charakteristisch für Beuron ist auch die Typografie der emaillierten Inschrift in Versalien mit dem U, das als „V“ und dem E, das als „Ꜫ“ geschrieben wird. 

All diese charakteristischen Elemente verweisen unzweifelhaft auf die Kunst der Beuroner Schule, in Beuron entstanden ist der vorliegende Kelch jedoch nicht. Sein Urheber, so verrät uns die Signatur unter dem Fuß, ist Josef Anton Hugger aus Rottweil. Einer der erstklassigsten Goldschmiede seiner Zeit, der sowohl im Auftrag der Beuroner Abtei als auch nach eigenen Entwürfen im Beuroner Stil arbeitete. Letzteres lässt sich auch für den Messkelch in St. Sebastian in Bonn-Poppelsdorf annehmen und zeigt, dass der Beuroner Stil die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten in der sakralen Kunst um die Jahrhundertwende nachhaltig prägte.

Silke Ingenhorst

Literatur

Krins, Hubert: Die Kunst der Beuroner Schule. Wie ein Licht vom Himmel, Beuron 1998.

Lang, Claudia: Die Goldschmiedekunst der Beuroner Schule. Das Kunstschaffen des Benediktinerordens unter Rückgriff auf archaische Stilelemente und gleichzeitigem Aufbruch in die Moderne, Regensburg 2007.

Siebenmorgen, Harald (Hg): Ägypten, die Moderne, die ‚Beuroner Kunstschule‘, Karlsruhe 2009.


[1] Krebs, Entwurf des Kelches für den „hl. Vater Pius x“, 1910, Tusche, aquarelliert, Bleistift, 30,3 cm x 21, 6 cm, Erzabtei Beuron, Kunstarchiv, E 45, fol. 41r, Abb. in: Lang 2007, S.163.