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Ein weißes Bild für 40 Tage – Das Fastentuch in St. Maria im Kapitol in Köln

St. Maria im Kapitol, Fastentuch, Gesamtansicht
Datum:
3. März 2022
Objekt des Monats – März 2022

Fastentuch (Leinen, Applikation, Stickerei)
Martha Kreutzer-Temming, Köln, 2011
Höhe 315 cm, Breite 180 cm
St. Maria im Kapitol, Köln


Seit Aschermittwoch begegnen wir in St. Maria im Kapitol einer alten und fast vergessenen Bildtradition, die nur während der 40-tägigen Fastenzeit zu sehen ist: Die Verhüllung des Kruzifixus mit einem Fastentuch aus Leinenapplikation und -stickerei.

Das Tuch hängt in der nördlichen Kreuzkapelle des Trikonchos, des mächtigen Kleeblattchores, in der wir für gewöhnlich das früheste Kölner Beispiel eines Crucifixus Dolorosus erblicken. Doch die leicht unterlebensgroße Christusfigur von 1304, die mit weit zurückgespannten Armen an einem Gabelkreuz hängt und von grausamen Nagelwunden und einem schmerzverzerrten Gesicht gekennzeichnet ist, entzieht sich unseren Blicken nun auf bestimmte Zeit.

Das Fastentuch, auch Hunger- oder Passionstuch, bezeichnet ursprünglich eine aus dem Mittelalter bekannte Gruppe von großen, einfachen und ungebleichten Leinentüchern, die mehr oder minder aufwendig, mit Passions- und Bibelszenen bestickt waren. Bedingt durch das Armutsideal der Klosterreformbestrebungen und der neuen Orden kam es zu einer verbreiteten Herstellung von Leinenstickerei ab dem 12. und insbesondere im 13. und 14. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Diese Arbeiten in Leinen wurden als Ausdruck von Frömmigkeit und Bescheidenheit angesehen. „Ihre Bedeutung, Verbreitung und Wertschätzung im Mittelalter ist für den heutigen Betrachter wegen der reduzierten Farbigkeit und des gewöhnlichen Materials nicht selbstverständlich zu erschließen.“[i]

Unverkennbar fügt sich das weiß nuancierte Textilbild der Kirche St. Maria im Kapitol in diese Bildtradition ein, das 2011 als seltenes Kunstwerk im liturgischen Gebrauch von der Kölner Textilkünstlerin Martha Kreutzer-Temming gefertigt wurde. Die Verwendung des einfachen Materials unterstreicht die Bedeutung der künstlerischen Bearbeitung: Erst die kunstfertige Gestaltung des handgewebten Leinens, das Übereinanderschichten der Applikationen und der Stickerei, steigert den künstlerischen sowie symbolischen Wert des Fastentuchs. Zugleich beeindruckt die mühevolle Fertigung, die eine „außerordentliche Kraft bei der Verarbeitung des starken Materials“[ii] erfordert.

Zersplittert und willkürlich überlagern die Leinenschichten in verschiedenen Intensitäten der Transparenz das graphisch-abstrakte Textil – sie wirken schmerzhaft zerklüftet und verletzt, dennoch beruhigend und erlöst. Der Vergleich zu einem großformatigen Grabtuch und der Passion Jesu steigt auf, wenngleich „thematische und gegenständliche Bezüge (…) nur auf dem Weg äußerster Konzentration auf Form und Komposition erschließbar [sind].“[iii]

Der besonderen Werkgruppe großformatiger Leinentücher widmete sich Martha Kreutzer-Temming zunächst zwischen 1969 und 1975. Ein Hungertuch der beachtlichen Größe von 600 cm x 360 cm entstand für das Museum für Angewandte Kunst in Köln (MAK), als Stiftung der Kölner Mäzenin Lotte Scheibler. Es zeigt – in mittelalterlicher Tradition – eingestickte Passionsszenen, jedoch im bogenförmigen Rapport und der abstrahierten Formsprache der Moderne. Zwischen 1998 bis 2000 folgte das Hungertuch für das Gerokreuz der Hohen Domkirche zu Köln, das gänzlich auf die Darstellung einzelner Szenen verzichtet. Ungefähr zehn Jahre später entsteht – initiiert durch eine Interessengemeinschaft – das Fastentuch für St. Maria im Kapitol, das seit 2011 den Crucifixus Dolorosus verhüllt.

Martha Kreutzer-Temming wurde am 15. Oktober 1933 auf der Beerlage bei Münster (heute Stadt Billerbeck) geboren. Sie erhielt ihre Ausbildung an der Werkkunstschule Münster (1949–54) im Bereich der Malerei und der textilen Künste bei Prof. Vincenz Pieper, Prof. Hanne Nüte-Kämmerer sowie der Kunstphilosophie bei Hugo Kükelhaus. Im Anschluss setzte sie ihr Studium der Malerei bei Prof. Wilhelm Teuwen und Gisela Oellers an den Werkkunstschulen Köln (1954–55) fort. Nach Abschluss ihrer Studien in Baumalerei/Glasmalerei bei Bernd Schlüter (Münster, 1956), begann sie ihre freiberufliche Tätigkeit in Köln und heiratete den Bildhauer Herbert Kreutzer. Die tiefgläubige Künstlerin widmete ihr Schaffen der Textilkunst und wirkte neben dem profanen Bereich insbesondere in der sakralen Kunst. Für ihr erstes Hungertuch, als „singuläre Schöpfung moderner Textilkunst“[iv] erhielt sie 1975 den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.

Stefanie Schirrmeister

Literatur/Quellen

Arbeitskreis für Inventarisation und Pflege des kirchlichen Kunstgutes (Hrsg.): Lexikon für kirchliches Kunstgut, Regensburg 2010.

Hoffmann, Godehard (Hg.): Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 69, zugl. Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln 2), Worms 2006.

Martha Kreutzer-Temming – Textile Bilder (Ausst. Kat., Museum für Angewandte Kunst Köln, 15.10.1998 bis 06.12.1998), Regensburg 1998.

Seeberg, Stefanie: Textile Bildwerke im Kirchenraum. Leinenstickereien im Kontext mittelalterlicher Raumausstattungen aus dem Prämonstratenserinnenkloster Altenberg/Lahn, Petersberg 2014.


GEDOK KÖLN – Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer e.V., Kreutzer-Temming, Martha - GEDOK KÖLN (gedok-koeln.de), zuletzt aufgerufen am 01.03.2022

Lotte-Hofmann-Gedächtnisstiftung für Textilkunst, vertreten vom Bundesverband Kunsthandwerk Berufsverband Handwerk Kunst Design e.V., http://www.lotte-hofmann-stiftung.de/preistraegerinnen/martha_kreutzer_temming.htm, zuletzt aufgerufen am 01.03.2022


[i] Seeberg 2014, S. 15.
[ii] Brigitte Tietzel in: Martha Kreutzer-Temming – Textile Bilder 1998, S. 4.
[iii] Richard Kreidler in: Martha Kreutzer-Temming – Textile Bilder 1998, S. 10.
[iv] Brigitte Klesse in: Martha Kreutzer-Temming – Textile Bilder 1998, S. 9.