„Maria als Erscheinung“: Ein textiles Bild in St. Antonius in Kaarst-Vorst

Gabriele Grosse, Düsseldorf, 1969
Wolle, gewebt, gerahmt
Maße: 240 x 240 cm
In der Vorhalle der Kirche St. Antonius in Kaarst-Vorst hängt ein großes, quadratisches Bild in Blau- und Weißtönen, das dem Besucher sogleich ins Auge fällt, wenn er durch das Nordportal eintritt (Abb. 1). Es handelt sich bei dem Werk um ein gewebtes Bild, das auf einen Holzrahmen aufgezogen wurde. Die Komposition ist als Quadrat angelegt, in das sich ein Kreis einfügt sowie mittig eine Sternform, genaugenommen eine Raute mit konkav eingebogenen Seiten. Die großen geometrischen Formen umreißen Bereiche des Bildes, die sich durch eine jeweils eigene Tonalität, Helligkeit und Kontrast auszeichnen. Unregelmäßige und organische Formen ziehen sich durch alle Bildfelder und erinnern an Landschaften. Berge, vielleicht auch Bäche und Bäume, meint man in der oberen, helleren Bildhälfte in gedämpften Blau- und Beigetönen zu erkennen. Links unten ist die Komposition von tiefen Blautönen geprägt und weckt Assoziationen an Meer und Wasser. Das Bild lässt an eine Landkarte denken und scheint zugleich einen Blick in Landschaften zu geben.
Zentral in dieser Landschaft und innerhalb des Sterns sitzt eine weibliche Figur: Maria. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt und blickt dem Betrachter entgegen. Die Augen sind durch kleine Sternformen ausgezeichnet, die sich, ebenso wie kleine Kreuze, um die Gottesmutter herum ausbreiten. In einem Text, der bis heute neben dem Bild hängt und auch eine Vorzeichnung für das gewebte Werk zeigt, hat die Künstlerin eigene Gedanken dazu geteilt (Abb. 2). Sie verweist auf die Symbolik der geometrischen Formen und der Farben. Der Kreis ist „Zeichen der Ewigkeit und Unvergänglichkeit“, das Kreuz zeigt sich „in Gestalt eines Sterns, um […] auf das All und das Himmlische hinzuweisen“. Bei den Farben nennt sie „Blau einerseits als Farbe des Firmaments und Sinnbild des Himmels, ferner als Muttergottesfarbe, und Weiß andererseits als Farbe des Lichtes und des Friedens […].“
Die dunkleren Partien im linken unteren Bildfeld werden von der Künstlerin als gebannte Finsternis umschrieben, erwecken jedoch im ausgeführten Werk durch die dominanten Blautöne kaum einen bedrohlichen Eindruck, sondern eher eine ruhige Tiefe. Insgesamt strahlt das Bild eine große Ruhe aus. Dazu trägt schon die harmonische und zugleich simple Anlage der Komposition bei: Das Quadrat und die strengen, geometrischen Formen geben dem Bild Struktur. Im Kontrast und wie als Ausgleich dazu wirken die geomorphen und organischen Liniengebilde, die sich durch die Bildfläche ziehen. In der rechten unteren Ecke ist ein „G“ als Signatur der Künstlerin eingewebt (Abb. 3).
Die Grafikerin und Textilkünstlerin Gabriele Grosse (geb. 1942) studierte 1961/62 an der Kunstakademie in Karlsruhe und anschließend von 1963 bis 1967 an der Düsseldorfer Kunstakademie als Meisterschülerin bei Joseph Fassbender. Dabei entwickelte sich die Tapisserie zu einem zentralen Medium in ihrem Schaffen. Bei Tapisserien, auch Bildwirkereien genannt, handelt es sich gewebte Bildteppiche. Zumeist kommen bei dem Begriff mittelalterliche Wandteppiche in den Sinn. Eine kleine Renaissance erlebte das Medium – wie die Textilkunst insgesamt – dann in den Werkschulen der 1920/30er Jahre. Danach trat diese Kunsttechnik wieder in den Hintergrund, vielleicht auch, weil das Wirken einer Tapisserie eine technisch anspruchsvolle und zeitaufwändige Arbeit ist. Viele der gewebten Werke von Gabriele Grosse sind nicht als Wandbehänge oder Bodenteppiche gedacht, sondern werden auf Holzrahmen aufgespannt und betonen damit den Bildcharakter der Objekte. Die Künstlerin selbst nennt sie „Tapisseriebilder“ oder „textile Bilder“.
Seit 1967 arbeitete Gabriele Grosse als freischaffende Künstlerin, das Marienbild in St. Antonius in Vorst gehört also in eine ihrer frühen Schaffensphasen. Es ist ein schönes Beispiel für das Werk einer zeitgenössischen Künstlerin in einem modernen Kirchenraum.