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Flucht im Zeitalter des Internets

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Integration
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Essay

Keine Aushöhlung des Asylrechts

Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki appellierte bei seinem Besuch des Norbert Gymnasiums in Knechtsteden am Montag, den 21.12.2015: "Wir müssen uns jetzt für Menschen auf der Flucht und die Integration der Neuen Nachbarn in unsere Gesellschaft einsetzen und nicht Obergrenzen einführen oder das Asylrecht aushöhlen. Jetzt ist die Zeit, um gute Strukturen für eine Integrationskultur in Deutschland und Europa aufzubauen und damit den Herausforderungen der kommenden Jahre zu begegnen."

Bereits im November 2014 rief Kardinal Woelki  die Aktion Neue Nachbarn ins Leben.

Ziel der Aktion ist es, die Willkommenskultur für und die Integration von Flüchtlinge im Erzbistum Köln zu fördern, die Bedarfe von Flüchtlingen stärker in das Bewusstsein zu rücken sowie alle kirchlichen und nicht-kirchlichen Akteure und Initiativen zu vernetzen.

Jesus, so Woelki, sei in eine unheile Welt hineingeboren. Es habe damals kein Bett, kein Laken, kein warmes Wasser, keine Hebamme, keine Erstausstattung, kein Stillkissen gegeben. Es habe, so Woelki in seiner Weihnachtsansprache in der Rheinischen Post 2016,  im römischen Reich damals auch nur einen mit militärischer Gewalt erzwungenen Frieden und vor Ort in Judäa mit Herodes einen Willkürherrscher, der selbst vor der Ermordung von Kindern nicht zurückschreckte gegeben. Vor genau diesem Herodes haben seine Eltern  mit Jesus alsbald fliehen müssen - schon wenige Tage nach der Geburt.

 

Willkommen in der Welt von heute.

 

Globale Nächstenliebe

Mit der Geburt Jesus komme ‚Gott uns Menschen so nahe wie Gott es nur könne. Er lebe, leide und liebe mit uns – in allem was uns widerfahre. Jesus, so Woelki auf der Weihnachtskarte 2016 sei  für alle Menschen der Welt geboren worden. Als hilfloses Kind komme er zu uns; er liebe jeden. Man soll dem Vorbild Jesu folgen, die Gleichgültigkeit bekämpfen und global lieben. Wer so liebe, werde bisweilen für naiv gehalten – aber das sei der Preis der Liebe.

 

Kardinal Woelki fordert  eine Globalisierung der Nächstenliebe ein. Flüchtlinge willkommen heißen und integrieren; eine gerechte Weltwirtschaftsordnung schaffen und nachhaltig wirtschaften – die Liste, so Woelki,  sei lang.

 

Souveränitätssimulation

Wir genießen die wirtschaftlichen Vorteile der Globalisierung und sind doch provinzieller denn je.  Wir freuen uns über das Schnäppchen beim Textildiscounter, fragen aber kaum danach, unter welchen humanen Bedingungen es produziert wurde.
Im Gegensatz zu den Urmenschen, denen wir wie Götter erscheinen müssten, haben wir unendlich viel Wissen angehäuft, das sich aber angesichts des gleichzeitig explosiv potenzierenden Gesamtwissens marginalisiert und auf immer kleiner werdende Spielfelder reduziert. Sloterdijk spricht vom leistungsstolzen Subjekt, das als moderner Könner immer weniger immer schneller und besser können muss und in diesem Wirbel der Kompetenzsteigerungsspirale seiner unausweichlichen Demütigung entgegenläuft. (Das Zeug zur Macht, Peter Sloterdijk)
Die Souveränität des Einzelnen wird zugleich provoziert und annulliert. Der technische Mensch ist ein reduzierter, auf Effizienzsteigerung angelegter Mensch, der nicht mehr reflexiv souverän ist.


Es reicht nicht mehr, etwas zu können, sondern man muss es in kürzeren Intervallen immer besser können. Als letzten Aufschrei auf verlorener Position erfindet der moderne Könner die Souveränitätssimulation wider die Sackgasse der Kompetenzsteigerungsspirale.
Die Souveränitätssimulation gefällt sich in der Gestaltung des Events, vergleichbar mit einer Lawine, rasch aufbrausend und schnell beendet. Wir gestalten das Event,  wenn nichts mehr zu ändern ist, oder wie es Sloterdijk sagt: „Gestaltung ist, wenn man es trotzdem macht.“

Die Strategie des Urmenschen wider die bedrohliche Umwelt mit Blitz, Donner und Erdbeben sicherte den Fortbestand sozialer Selbsterhaltung im praktizierten Ritual.
Er hatte keine Einflussmöglichkeit, aber rezitierte ein Lied für den Wettergott, das ihn, (wenn überhaupt) das Unwetter überstehen ließ.
„Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen soll, nicht in auflösende Panik oder Seelen tötende Starre zu verfallen.“ (Das Zeug zur Macht, Peter Sloterdijk)

 

Habitus

Der moderne Könner praktiziert in Analogie zum Urmenschen als Souveränitätssimulation die Gestaltung. Wir gestalten, wenn nichts mehr zu ändern ist, um der Ohnmacht zu entgehen, die wir in einem gesellschaftlichen Rahmen erleben, der das Verhältnis von Humanität, Erkenntnis und Technik neu interpretiert hat.
Als erzeugendes Prinzip des Geschmacksurteils – oder allgemeiner: der Lebensform eines Individuums – erkennt Bourdieu (1979, La distinction. Critique sociale du jugement [Die feinen Unterschiede]) den Habitus, der im Wesentlichen nichts anderes als die Gewohnheit ist, die unser alltägliches Handeln bestimmt.

Mit den Flüchtlingsströmen wird diese Gewohnheit alltäglichen Handelns in Frage gestellt.
Bourdieu geht davon aus, dass es die Erfahrungen sind, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht und zwar von Geburt an. Als soziales Wesen ist der Mensch spätestens ab dem Zeitpunkt seiner Geburt in eine soziale Gemeinschaft und Gesellschaft eingebunden bzw. ihr ausgesetzt, kann gleichermaßen aber auch von Beginn an auf sie einwirken (und das nicht nur mittels Geschrei, das herbeiruft, sondern schon allein durch Anwesenheit – man denke an all die Handlungen und Bewegungen, die in einem Krankenhaus nur deshalb ausgeführt werden, weil dort ein Neugeborenes ist). Von Beginn an umgibt ihn also ein bestimmter Umgang, der sich vermittels seiner körperlichen Erkenntnis in ihm manifestiert.
Die Erfahrungen, die er von nun an „sammelt“, kumulieren in seinem Habitus, der sich als „einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte“ auffassen lässt. Sämtliche Erfahrungen (eigener und fremder Handlungen), die zunächst bewusst erscheinen, geraten in dem Maße also in Vergessenheit, in dem sie dem Körper bewusster und damit eigen werden. Es ist aber nicht nur die Art und Weise, den Körper zu bewegen, die sich im Habitus manifestiert, sondern auch die Geisteshaltung, die Art und Weise, die Welt wahrzunehmen und Vorgänge in ihr zu bewerten.
Der Habitus funktioniert als inneres Gesetz, wie eine Strategie ohne Absicht und bringt gerade deswegen diejenigen Handlungen hervor, die uns gewöhnlich erscheinen. Mehr noch: Da mit dem Hervorbringen des Habitus unweigerlich das Vergessen über seine Hervorbringung und damit Bedingtheit einhergeht, erscheinen uns unser Handeln und unsere soziale Umwelt als natürlich und unser selbstverständliches Handeln gerät dort ins Stocken, wo wir auf eine Umwelt treffen, die nicht konform ist. Erst dann wird bewusst, wie speziell und keinesfalls natürlich unser Verhalten und unsere Wahrnehmung sind. Wir durchschauen  als leistungsstolze Subjekte zwar nicht mehr die globalisierte Welt, deren Vorzüge wir gerne entgegennehmen und  fokussieren uns auf immer kleinere Spielfelder unsres Tuns.

Aber über die Gestaltung einer Willkommenskultur hinaus, muss nun Integrationsarbeit in der Tat geleistet werden.

 

 

Smartphone - Metapher für eine neue Dimension

Ein prägnantes Bild als Metapher für eine neue Dimension der Migration ist der Flüchtling mit dem Smartphone.
Smartphones kennen keine Grenzen. Im global vernetzten  Raum werden mit dem Smartphone Menschen über Erdteile  hinweg verbunden. Smartphones  demokratisieren Wissen und verbinden Individuen. Grenzenlos wandern Daten über den Globus.
Das Smartphone des Flüchtlings ist das Synonym für Globalisierung, Mobilität, Gemeinschaft und Vernetzung.
Unbezweifelbar ist die Globalisierung Teil des Flüchtlingsproblems, denn der Wohlstand der westlichen Welt verursacht Armut und Spannungen in anderen Ländern.
Die Flüchtenden sind immer schon mit uns verbunden, dies wird keiner leugnen wollen. Die Flüchtlinge sind nicht nur die Fremden, sondern wir leben immer bereits in einer Beziehung miteinander, die  im Symbol des Smartphones kulminiert, in der Tat jedoch in wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht immer schon existiert.

 

 

Grenzenlos

„Über Grenzen hinweg halten die Flüchtenden mit ihrem Smartphone Kontakt mit ihren Familien, mit Google Maps orientieren sie sich auf der Flucht, über Facebook kommunizieren sie mit ihren Freunden. Auf YouTube hören sie, was Angela Merkel zu sagen hat. Das Smartphone verbindet sie mit der westlichen Welt. Es verbindet sie mit uns.“ (aus der Zeitschrift: Hohe Luft, 1/2016)


Alles scheint grenzenlos zu funktionieren – nur die Menschen stören ein wenig. Sie müssen mit dem Smartphone in der Hand unter dem NATO-Draht hindurchrobben, ertrinken im Mittelmeer und ersticken im überfüllten Lkw neben der Autobahn.
Der reale Mensch stört.

Zu allen Zeiten brachen Menschen aus ihren Heimatländern auf, getrieben von der Hoffnung, ihre Lebensumstände zu verbessern. In vielen Fällen bereicherten und belebten sie die Länder, in die sie kamen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die ungehemmte Zuwanderung für die Aufnahmeländer kaum ein Problem. Die Situation veränderte sich mit der Globalisierung, durch die Zunahme illegaler Zuwanderung, durch die Mobilitäts- und Kommunikationsrevolution. Zugleich stieg in den entwickelten Ländern die Nachfrage nach jungen Arbeitskräften, um den demografischen Wandel auszugleichen. Die Migration entwickelte sich zu einer Dimension der Globalisierung – zu einem Prozess, den wir in seiner Unausweichlichkeit akzeptieren müssen. Neben der ökonomischen Migration, gibt es die politische und in naher Zukunft die ökologische.

 

Flucht im Zeitalter des Internets

Verändert wurde die soziale Ontologie. Der Flüchtling mit Smartphone ist nicht mehr mit den Flüchtlingen vor 50 Jahren, als es noch kein Internet gab, vergleichbar. Er mag uns fremd erscheinen, steht aber immer schon in einer ökonomischen, virtuellen und ontologischen Beziehung zu uns, da die Bedeutung topografischen Grenzmarkierungen sich marginalisierte.  Religionen, Geisteshaltungen, Wissen und Kulturen sind nicht mehr an  Räume gebunden, die sichtbare Abgrenzungen erlaubten. Der Beziehungsstatus des „Fremden“ zu uns ist intensiver geworden, die Akzeptanz geringer. 1961 schrieb der Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan, dass die visuelle, individualistische Druckkultur bald durch eine sogenannte elektronische gegenseitige Abhängigkeit abgelöst werde. In dieser Periode werde die Menschheit vom Individualismus und der Trennung abrücken und eine kollektive Identität auf Stammesbasis annehmen. McLuhan nannte diese Sozialstruktur „Globales Dorf“. In derselben Geschwindigkeit, mit der die Welt zusammenrückte, nahmen jedoch offenbar auch die Abwehrhaltungen und Abgrenzungen zu Fremden immer mehr zu.

 

Humanismus als ein ethisches Streben nach Menschlichkeit

Es müssen politische Bedingungen geschaffen werden, die in die Erziehung, Wirtschaft und Infrastruktur hineinreichen, um mentale, ökologische und soziale Gettoisierung zu vermeiden. Hierbei ist Humanismus als ein ethisches Streben nach Menschlichkeit und einer besseren Existenzform für alle Menschen ohne Demokratie nicht denkbar.

Um Mensch zu werden, zu sein, dürfen wir uns an kein Bild vom Menschen klammern. Wir müssen das Fremde akzeptieren und denken. Wir müssen auch die Demokratie schützen. Du sollst dir kein Bild machen greift vielleicht ein wenig zu kurz. Das entworfene  Bild ist in Analogie zum  Vorurteil nicht falsch, solange man bereit ist, das Vorurteil und Bild als notwendigen Vorentwurf  zum Urteil zu sehen, den es ständig zu überprüfen gilt. Sicher braucht man einen Standpunkt, weil es sonst keinen gäbe, der verstehen könnte, aber man muss diesen Standpunkt ständig mit dem Anderen abgleichen, um zu einem bereichernd gemeinsamen Standpunkt zu gelangen.

 

Das Individuum erhält seine Identität durch die Interaktion mit anderen Individuen

Ähnlich argumentiert Abteilungsleiterin Dr. Schwarz-Boenneke in einem Interview (www.katholische-freie-schulen.de) im Oktober 2015:

„Das Individuum erhält seine Identität durch die Interaktion mit anderen Individuen. Nur durch die Orientierung an den anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe ist das Individuum in der Lage dazu, sich als solches wahrzunehmen. Eine soziale Gruppe ist aber keine betonierte Einheit.
Die Sprache bildet hier natürlich eine maßgebliche Grundlage für die Entstehung der Identität wie gleichzeitig auch für eine funktionierende Gesellschaft. Wie in der Entwicklung des Kindes, ist diese Identität – das „Selbst“ – nicht von Beginn des menschlichen Lebens vorhanden, sondern muss zunächst durch Erfahrungs- und Entwicklungsprozesse gebildet und vermittelt werden.
Das Selbst entwickelt sich dann durch die Interaktion, was immer mehr als Sprache ist, mit den anderen fortlaufend weiter und kann somit nicht als feste Einheit, sondern vielmehr als immerwährende Ausdifferenzierung der Haltungen der anderen, der gesellschaftlichen Normen und Vorgaben, mit dem „Ich“ gesehen werden.
Empathie bedeutet auch, dass ich – eben aufgrund meiner Empathie – weiß, was es heißt, sich nicht ausdrücken zu können, dass ich dessen beraubt bin, was Kommunikation zwischen Menschen ausmacht. Ich würde mir wünschen, dass wir die große Kultursprache, die wir haben, das „Nonverbale“ und die Haltungsfrage stärker einüben.
Wir müssen hier in Deutschland darauf achten, eine Kultur zu leben, die das existente Freiheitsverständnis und das Verantwortungsverständnis verlebendigt. Was für mich darüber hinaus zu Deutschland gehört, ist die große Diskursfähigkeit in allen geistigen Bereichen. Dies wiederum impliziert das Aushalten anderer Überzeugungen.

Ihr Bezug auf [die Bedeutung der Sprache bei] Humboldt geht aber noch einen Schritt weiter: Es fragt nach den kommunikativen und zwischenmenschlichen Codices, die im Sportverein, auf der Straße, im Beruf oder in Kultureinrichtungen – auch Kirche gelten. Diese Sprache können Fremde nur erlernen, wenn sie von uns eingeführt werden. Da geht es ihnen wie jedem, der nicht aus der Szene, zum Beispiel der Opernszene, kommt und nicht weiß, wie er sich in dem Umfeld verhalten soll. Ich plädiere deswegen für Partnerschaften und Patenschaften im Stadtteil: Die alteingesessenen Institutionen sollten hier den ersten Schritt machen, Menschen aufnehmen und mit der „Sprache“ im Sinne der Kultur vor Ort vertraut machen. All die Projekte, die wir in Schulen, Vereinen etc. Land auf und Land ab sehen, sind dafür hervorragende Beispiele“.

Das Fremde

Das Fremde ist einerseits etwas Uraltes, andererseits etwas höchst Aktuelles. Was das Uralte angeht, so genügt es, auf zwei Quellen der westlichen Kultur hinzuweisen. In Mose 2,22 heißt es: „,Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und drücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.ʻ Es ist ein Gebot, das auf eine vorherige Erfahrung hinweist, nämlich auf das Exil, von dem das Jüdische bis in die Gegenwart gezeichnet ist. Bei den Griechen trägt Zeus den Beinamen Xenios – der Gott, der das Gastrecht schützt. Wie eng Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft beieinander wohnen, zeigt sich in der schillernden Bedeutung der lateinischen Wörter ,hostisʻ und ,hospesʻ. Hat die Aktualität der Fremdheitsproblematik überhaupt etwas mit diesen alten Traditionen zu tun? Vielleicht könnte das Denken des Fremden – speziell aus Sicht der Philosophie – darauf eine Antwort geben, gerade weil sich dieses Denken weder auf sicher vorhandene Traditionen stützt noch in Tagesfragen aufgeht.“
(aus: Bernhard Waldenfels, Das Fremde denken, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4/2007)


Zuwanderung in der Philosophie ( siehe: Der Kapitalismus ist ein Humanismus von Thomas Vasek, Philosophie-Zeitschrift – Hohe Luft 1/2016 S. 23ff)

 

Das Fremde in der Philosophie

Einige bedeutende Philosophen haben gegen die uneingeschränkte Zuwanderung argumentiert.
Immanuel Kant meint in seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ (1795), dass allen Fremden zwar ein Besuchsrecht zustehe, nicht aber das Gastrecht, länger zu bleiben – dazu sei ein besonderer wohltätiger Vertrag erforderlich.
John Rawls schreibt in seinem Buch, Regierungen hätten Verantwortung für ihr Territorium und die Größe ihrer Bevölkerung. Ein Land habe daher die qualifizierte Verpflichtung, die Einwanderung zu begrenzen. Als Gründe nennt Rawl den Schutz der politischen Kultur des Landes und seiner Verfassungsprinzipien. Auch Michael Walzer argumentiert, die Besonderheit von Kulturen und Gemeinschaften brauche einen geschlossenen Raum, um sich zu entfalten.
In der Migrationsfrage geht es allerdings nicht bloß um den Zugang zu einem Territorium oder einer Kultur. Es geht auch um den Zugang zu ökonomischen Chancen. Wenn es ein Recht auf solche Chancen gibt, dann kann man dem Menschen die Zuwanderung nicht ohne Weiteres verwehren. Und das gilt erst recht, wenn beide Seiten aus der Zuwanderung ökonomische Vorteile ziehen.

Die liberalen Ökonomen des 19. Jahrhunderts argumentierten daher für unbeschränkte Migration. Jeder Mensch solle sich frei bewegen dürfen, um nach seinem Vorteil zu streben. Der Staat solle nur für die Aufrechterhaltung der Ordnung auf seinem Territorium sorgen, aber nicht darüber entscheiden, wer es bewohnen dürfe.
Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) meinte, dass Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht im eigenen Land verdienen können, in dünn besiedelte Länder umgesiedelt werden sollten. Allerdings sollten die Siedler die Einwohner nicht ausrotten, sondern sie drängen, enger zusammenzuwohnen und nicht weiträumig umherzustreifen, um sich zu nehmen, was sie finden.
Menschen haben Anspruch auf Chancen, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Das bedeutet Verwirklichungschancen (capabilities), wie es der Ökonom und Philosoph Amartya Sen ausdrückt – nämlich konkrete Chancen, die eigenen Vorstellungen von einem guten Leben zu realisieren.

Menschen streben danach, ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei handeln sie nicht als isolierte Subjekte, sondern immer in konkreten Situationen, sie interagieren mit gesellschaftlichen Systemen innerhalb eine global vernetzten Welt.
Deshalb werden sie dorthin gehen, wo sie eine Verbesserung ihrer Lebensumstände erwarten.


Das Recht, Chancen zu haben

Migranten, so Hannah Arndt (1906–1975), haben nicht nur das Recht, Rechte zu haben, sondern sie haben auch das Recht, Chancen zu haben. Es ist dieses Recht auf Verwirklichungschancen, mit dem wir in der Migrationsfrage konfrontiert sind.
Nun ist aber klar, dass nicht jeder Mensch dazu verpflichtet sein kann, anderen Chancen zu bieten. Besonders kann niemand zu einer Leistung verpflichtet werden, die er nicht erfüllen kann.

 

Geboren werden ist keine Schuld mit Alleinstellungsmerkmal

Jede Pflicht muss auf das Machbare beschränkt sein. Diesen Grundsatz kannte bereits das römische Recht.
Niemand trägt Schuld daran, zufällig in einer Weltgegend geboren worden zu sein, wo solche Verwirklichungschancen nicht bestehen. Deshalb kann auch niemand abgewiesen werden.
Wer an einer Grenze abgewiesen wird, verliert konkrete Chancen, sich ein neues besseres Leben aufzubauen.
Aus guten Gründen steht das „Pursuit of Happiness“, das Streben nach Glück, in der Unabhängigkeitserklärung des Einwanderungslandes Amerika.

Erziehung als Kernthema

Erziehung ist als Kernthema aus der Philosophie verschwunden. In großer Selbstverständlichkeit dachten Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Rousseau und Locke über Erziehung nach. Platons berühmtester Dialog „Der Staat“ thematisiert nahezu ausschließlich die Erziehung.
Wie müssen wir uns und die anderen erziehen, um einen geordneten, funktionierenden Staat zu kreieren? Der Gräueltaten der Französischen Revolution ansichtig, forderte Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung eine Bewusstseinsänderung des Einzelnen mittels der Erziehung, um eine funktionierende Gemeinschaft im Wechselspiel von Natur- und Vernunftstaat zu etablieren.
John Dewey (1859–1952) war einer der letzten Philosophen in der westlichen Tradition, der sich mit dem Thema Erziehung auseinandersetzte. Die Idee des Individuums, auf dem der Fokus bisheriger Bemühungen ruhte, erschien ihm nur sinnvoll, wenn dieses Teil einer Gemeinschaft sei, die sich wiederum als Verbund von Individuen begreife.
Geschichtlich betrachtet waren Ziele und Zwecke der Erziehung die wichtigsten Fragen der Philosophie. Nun aber haben Psychologen, Ökonomen und Erziehungswissenschaftler dieses Feld übernommen. Die Motivation, mündige Bürger für eine funktionierende demokratische Staatsform zu erziehen, ist auf der Basis einer funktionierenden Demokratie mit affiner Wertevermittlung vom Kerngeschäft der Erziehung abgekoppelt. Wir leben in keinem Naturstaat, sondern in einer hochdifferenzierten Gesellschaft mit allen Annehmlichkeiten der Zivilisation, deren Habitus sich längst zwischen Natur- und Vernunftstaat eingependelt hat.
Schulische Erziehung beschränkt sich neben der Wertevermittlung in Erzbischöflichen Schulen auf die Befähigung, erfolgreich auf ein differenziertes Arbeitsleben vorzubereiten. Erziehung ist schlank ausgerichtet auf die Vermittlung des Wissens und der Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt verlangt werden. Die Schulzeit wurde verkürzt, um im europäischen Wettbewerb standhalten zu können. Nebenbei wurde Geld gespart.

 

Die ersten staatlichen Schulen

Nun aber greift bei der schulischen Integration Asylsuchender die vornehmlich ökonomisch geprägte Variante westlicher Erziehung zu kurz, denn das Bewusstsein funktionierender Demokratien kann hier nicht ungefragt vorausgesetzt werden. Asylsuchende entfliehen einer langen Tradition fehlender Demokratie. Ihre Tradition erinnert an den Naturstaat Schillers. Wertebewusstsein und politische Genese differieren entschieden zu westlich geprägten Gesellschaften.
Als zunächst in den westlichen Gesellschaften (hier die USA) staatliche Schulen eingeführt wurden, ging es nicht darum, Bildung oder Kompetenzen zu vermitteln, sondern in erster Linie sollte ein neuer Typus des politischen Bürgers herangezogen werden.
Auf der Basis einer immer besser funktionierenden Demokratie vollzog sich ein Wertewandel in der Erziehung, von der Politik zur Ökonomie.
Das heutige Rechtfertigungsszenarium der Erziehung ist kein humanistisch-politischer Ansatz, sondern vielmehr ein ökonomischer. Das Bruttosozialprodukt ist das volkswirtschaftliche Ziel, das uns erlaubt, ein selbstbestimmtes, freies Leben zu führen.
Hier kann aber nicht jeder tun, was er will, sondern auf der Basis internalisierter Grund- und Werteregeln, die nicht optional sind, kann sich die Erziehung diese freiheitliche Autonomie des Subjekts leisten.

 

Aus der Willkommenskultur wird eine Integrationskultur

Aus Willkommenskultur müsse so das Erzbistum Köln eine Integrationskultur werden

Die Einrichtung eines Schulplatzes für einen Schüler mit Fluchterfahrung ab dem 1. Februar 2016 pro Klasse einer erzbischöflichen Schule ist der vorgesehene Weg, um eine Integration zu gewährleisten.

 

Bereits im November 2014 hat Kardinal Woelki die Aktion Neue Nachbarn ins Leben gerufen, die Flüchtlingshelfer im Erzbistum Köln unterstützt, vernetzt und fördert. An Gemeinden und Initiativen im Erzbistum Köln werden Zuschüsse für die Flüchtlingshilfe ausgezahlt. Engagierten werden Informationen, Ansprechpartner und neue Ideen geboten. Zunächst lag der Schwerpunkt der Aktion auf der Schaffung einer Willkommenskultur. Inzwischen setzt sich das Erzbistum Köln verstärkt für eine Integrationskultur ein. In den Jahren 2015 und 2016 wurden für die Aktion Neue Nachbarn und die Flüchtlingshilfe vom Erzbistum Köln insgesamt 27,5 Millionen Euro bereitgestellt. Außerdem ist die Flüchtlingshilfe Thema in der alltäglichen Arbeit vieler Bereiche.

 

 

Kernkompetenz <Sprache> stärken

Ein Schwerpunkt waren im Jahr 2015 Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache als ein Schlüssel für gelingende Integration und ein selbstbestimmtes Leben in der neuen Heimat. Da weiterhin vielen Flüchtlingen der Zugang zu staatlich gefördertem Deutschunterricht verwehrt bleibt, bietet das Bildungswerk des Erzbistums flächendeckend ein qualifiziertes und kostenfreies Sprachangebot an. Allein 2015 wurden über 390 Deutschangebote durchgeführt und damit etwa 7.400 Teilnehmende erreicht. Vom Erzbistum Köln wurden dafür im Jahr 2015 rund 500.000 Euro zur Verfügung gestellt, für das kommende Jahr 2016 sind rund 700.000 Euro veranschlagt. Außerdem erhält der Träger, das Bildungswerk der Erzdiözese Köln, pauschale Landeszuschüsse für die Bildungsarbeit.

 

 

In jeder Schulklasse ein Flüchtling

Unter dem Stichwort „Integrationskultur“ wird ab dem 1. Februar 2016 pro Klasse einer erzbischöflichen Schule ein Schulplatz für einen Schüler mit Fluchterfahrung eingerichtet. In der Summe werden vom Erzbistum Köln damit rund 750 Schulplätze für Kinder mit Fluchterfahrung angeboten. Nach der Aufnahme von Schülern mit Fluchterfahrung soll zunächst auf das Prinzip einer Eingangsklasse (Auffangklasse) - mit Bezug auf den Spracherwerb - zurückgegriffen werden. Parallel zum Besuch der Eingangsklasse (Auffangklasse) werden die Schüler einer Regelklasse zugeteilt, die sie dann auch schon besuchen – nach und nach gehen die Schüler dann ganz in die Regelklassen über. Das Prinzip der Einzelintegration sollte auch hier nach Möglichkeit verfolgt werden.

 

 

 

Kultur ist ein prozessualer Begriff

„Wo Werte sich entwickeln sollen, müssen Werte bereits gelten.“ (aus der Zeitschrift: Hohe Luft_Spezial WERTE, 1/2016, Seite 25)
Wir müssen Migranten nicht unsere Kultur aufdrängen, denn Kultur ist ein prozessualer Begriff. Wir müssen allerdings erwarten, dass sie das Grundgesetz respektieren, oder wir müssen sie dazu befähigen.
Wer hier leben will, muss seine gebotenen Chancen wahren und mit seinem Beitrag den Wohlstand vergrößern, von dem er profitieren will.
Schule muss eine politische Werteerziehung leisten, die die Genese der Migranten bedenkt, und darf sich nicht auf eine uns selbstverständlich gewordene, ausschließlich ökonomische Ausrichtung von Bildung verlassen.

 

 

 

Olaf Gruschka

Quellen

Zeitschrift: Hohe Luft, 1/2016

Bernhard Waldenfels, Das Fremde denken, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 3, URL

Das Zeug zur Macht, Peter Sloterdijk

Interview mit Dr. B. Schwarz-Boenneke (siehe Button linke Spalte)

Pressemeldungen des Erzbistums Köln zur Integration