Interview mit Dr. B. Schwarz-Boenneke

Interview mit Frau Dr. Bernadette Schwarz-Boenneke, Leiterin der Hauptabteilung Schule/Hochschule

Frau Dr. Schwarz-Boenneke, das Fremde bleibt immer auch ambivalent. Sind wir in anderen Ländern, finden wir das Fremde interessant, aber kommt das Fremde zu uns, beziehen wir sofort eine Abwehrhaltung und haben große Schwierigkeiten, es zu tolerieren. Woran liegt das?


Wenn ich in den Urlaub ins Ausland fahre, dann fahre ich dorthin, weil ich neugierig bin auf dieses Andere, zumal das Vertraute im Alltag auch langweilig sein kann. Der Urlaub stellt einen Rahmen zur Verfügung, um mich mit dem Fremden auseinanderzusetzen. Dieses Zeitfenster  des Urlaubs bietet eine schöne Abwechslung vom Gewohnten und die schöne Abwechslung vom Alltag.
Wenn wir aber im eigenen Umfeld mit etwas konfrontiert werden, was unserer Alltagssituation widerstrebt, stellt sich zunächst eine Irritation ein, insbesondere wenn auch die Privatsphäre tangiert wird.


Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Sie wohnen in einem Mehrfamilienhaus und kennen Ihre Nachbarn bereits über einen längeren Zeitraum. Ein Wechsel in der Nachbarschaft ist immer mit einer Änderung des Gewohnten verbunden. Der neue Nachbar lässt vielleicht seine Schuhe draußen stehen, hört laute Musik oder kocht mit fremden Gewürzen, deren Duft in den Flur zieht. Es kommt im visuellen, akustischen und olfaktorischen Bereich zu einer Veränderung Ihres  Alltags. Im Urlaub sind Sie bereit, sich auf diese Fremdheitserfahrung einzulassen. Zuhause aber verlangt es Anstrengung, sich zu arrangieren. Ich bleibe beim Beispiel des Mehrfamilienhauses: Sie müssen sich mit dem neuen Nachbarn zusammensetzen und aushandeln, welche Regeln in der Wohngemeinschaft gelten, damit alle sich in dem Haus heimisch fühlen. Dafür gibt es Vorgaben, das Meiste aber muss ausgehandelt werden.

 

In einer heterogener und pluraler werdenden Gesellschaft muss sich jeder auf einen Veränderungsprozess einlassen.

 

Für lange Zeit galt, Integration sei eine Einbahnstraße. Demzufolge sollten sich allein die Hinzugezogenen anpassen. Ich halte es auch für notwendig, , dass sich jeder mit hier geltenden Regeln und Gesetzen vertraut machen und sich an sie halten muss.. Zugleich aber es ist auch richtig, dass wir uns alle bewegen müssen, wenn dies auch bedeutet, die gewohnten Pfade zu verlassen und sich dem Risiko auszusetzen, etwas Neues zu lernen. Dies befremdet und kann auch Angst machen.

 

 

Bedeutet das auch, nicht nur die Migranten müssten unsere Sprache lernen, sondern wir müssten auch ihre Sprache lernen?

 

 

Ganz konkret auf die gesprochene Sprache bezogen?



Ja, die Sprache – gemäß Humboldt – als Synonym für die Kultur.

 

 

Ich habe selbst ein Jahr lang in Frankreich gelebt und war der Sprache bei meiner Ankunft nicht mächtig. Ich habe gelernt, mich leicht ohne Sprachkenntnisse im Alltag zu bewegen. Ich bin schlicht und einfach zum Einkaufen in den Supermarkt gegangen, habe bei Bedarf einen mehrsprachigen Arzt aufgesucht, und beim Friseur habe ich auf das gezeigt, was ich haben wollte. Wir kommen also auch ganz gut ohne die Alltagssprache zurecht, wenn wir uns deiktisch artikulieren. Wenn es aber darum geht, in der neuen Lebenswelt anzukommen, Freunde zu finden, ist Sprache notwendig.


In meiner damaligen Situation in Frankreich habe ich mich mit Deutschen getroffen, weil es so viel einfacher und nicht so anstrengend war. Um aber richtig anzukommen, war mir jedoch klar, dass ich die Sprache lernen muss. Die Sprache hier in Deutschland ist unsere gemeinsame Sprache. Es auch richtig, dass Köln eine internationale Stadt ist, und wenn man durch Köln geht, hört man viele Sprachen. Aber selbst wenn viele von uns Englisch sprechen, bleibt doch die gemeinsame Umgangssprache Deutsch, die wiederum keine starre Sprache sein kann, sondern kontinuierlichen Entwicklungen unterliegt. Was wir brauchen, ist eine Empathie für Anderssprechende.

 

 

Kann man hier an George Herbert Mead und seine Konstruktion des „Role taking“ denken?

 

 

Durchaus! Das Individuum erhält seine Identität durch die Interaktion mit anderen Individuen. Nur durch die Orientierung an den anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe ist das Individuum in der Lage dazu, sich als solches wahrzunehmen. Eine soziale Gruppe ist aber keine betonierte Einheit.


Die Sprache bildet hier natürlich eine maßgebliche Grundlage für die Entstehung der Identität wie gleichzeitig auch für eine funktionierende Gesellschaft. Wie in der Entwicklung des Kindes, ist diese Identität – das „Selbst“ – nicht von Beginn des menschlichen Lebens vorhanden, sondern muss zunächst durch Erfahrungs- und Entwicklungsprozesse gebildet und vermittelt werden.
Das Selbst entwickelt sich dann durch die Interaktion, was immer mehr als Sprache ist, mit den anderen fortlaufend weiter und kann somit nicht als feste Einheit, sondern vielmehr als immerwährende Ausdifferenzierung der Haltungen der anderen, der gesellschaftlichen Normen und Vorgaben, mit dem „Ich“ gesehen werden.


Empathie bedeutet auch, dass ich – eben aufgrund meiner Empathie – weiß, was es heißt, sich nicht ausdrücken zu können, dass ich dessen beraubt bin, was Kommunikation zwischen Menschen ausmacht. Ich würde mir wünschen, dass wir die große Kultursprache, die wir haben, das „Nonverbale“ und die Haltungsfrage stärker einüben.
Wir müssen hier in Deutschland darauf achten, eine Kultur zu leben, die das existente Freiheitsverständnis und das Verantwortungsverständnis verlebendigt. Was für mich darüber hinaus zu Deutschland gehört, ist die große Diskursfähigkeit in allen geistigen Bereichen. Dies wiederum impliziert das Aushalten anderer Überzeugungen.

 

Ihr Bezug auf Humboldt geht aber noch einen Schritt weiter: Es fragt nach den kommunikativen und zwischenmenschlichen Codices, die im Sportverein, auf der Straße, im Beruf oder in Kultureinrichtungen – auch Kirche gelten. Diese Sprache können Fremde nur erlernen, wenn sie von uns eingeführt werden. Da geht es ihnen wie jedem, der nicht aus der Szene, zum Beispiel der Opernszene, kommt und nicht weiß, wie er sich in dem Umfeld verhalten soll. Ich plädiere deswegen für Partnerschaften und Patenschaften im Stadtteil: Die alteingesessenen Institutionen sollten hier den ersten Schritt machen, Menschen aufnehmen und mit der „Sprache“ im Sinne der Kultur vor Ort vertraut machen. All die Projekte, die wir in Schulen, Vereinen etc. Land auf und Land ab sehen, sind dafür hervorragende Beispiele.




Das Fremde wird oftmals als Derivat des eigenen Selbst verstanden. Um hier eine Gemeinsamkeit entdecken zu können, müssten wir das Gemeinsame einem übergeordneten Ganzen unterstellen. Die Griechen nannten es Kosmos, doch der ist für den modernen Menschen, dem die Welt undurchschaubar fremd bleibt, nicht mehr existent. Wo ist der Kosmos für den Einzelnen, der es ihm erlauben würde, zunächst das übergeordnete Ganze wahrzunehmen und dann das Gemeinsame zu entdecken?

 

 

Für den Bereich Schule geht es erst einmal darum, dass Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft wie auch divergierender Überzeugungen – auch wenn sie katholisch sind, haben sie verschiedene Überzeugungen – zusammen leben und zusammen lernen. Hier kommen dann Werte zum Tragen, die das Gemeinsame sind. Es gibt verschiedene Begründungszusammenhänge, und es gibt eine bestimmte Erwartungshaltung, wie Zusammenleben in der Schule gelingen kann.



Leben unterschiedlicher Kulturen auf der Basis gegenseitiger Achtung?

 

 

Vielmehr das Leben unterschiedlicher Menschen in der Schule. Hier erfordert die Heterogenität der gesellschaftlichen Situation natürlich eine neue Qualität des Zusammenlebens und bringt neue   Herausforderungen mit sich. Letztlich bedeutet dies nur eine Zuspitzung des Faktums, dass Menschen verschiedene Überzeugungen unterschiedlich begründen. Wir müssen sie auch begründen und dürfen den Aushandlungsprozess nicht meiden. Wir sehen uns in Deutschland mit einem Wandel der Gewohnheiten konfrontiert. Hier möchte ich das Beispiel der Wohnsituation in einem Mehrfamilienhaus nochmals aufnehmen, in dem es Usus war, dass samstags geputzt wird, keine Schuhe draußen stehen usw. Nun zieht eine Familie aus Bayern ins Haus, die einen anderen Dialekt spricht und einen anderen Habitus hat. Sieht man sich nun mit allen Vorurteilen konfrontiert, die man hatte, muss ein Aushandlungsprozess her. Hier müssen sich in der Kommunikation alle bewegen. Bloß normative Argumente auf beiden Seiten, „es sei immer schon so gewesen“, helfen nicht weiter.


Auf das Bezugsfeld Schule übertragen, ist dies die Situation, die für die Bereiche Lern- und Lebensraum notwendig ist. Ich muss mich vergewissern, was mir und dem anderen wichtig ist. Dies ist ein notwendiger Reflexionsprozess unter der gemeinsamen Prämisse, hier leben zu wollen.



Um es mit Hans-Georg Gadamer, dem großen Hermeneutiker zu sagen, plädieren Sie für eine Horizontverschmelzung?

 

 

Ja, jeder muss seinen eigenen Standpunkt mit der Absicht, sich einem kultivierten Aushandlungsprozess zu stellen, vertreten. Dies bedeutet die Bereitschaft zu einem Perspektivwechsel, der im Ergebnis synergetische Relevanz hat. Man muss die Frage stellen, wo das gemeinsame Anliegen ist und wie man diesem Anliegen gerecht werden kann.



Dies bedeutet, beide Parteien gehen mit ihren Standpunkten in ein Gespräch und verlassen es mit einem jeweils erweiterten Horizont als Synergieeffekt?

 

 

Dies wäre dann für mich ein deutliches Verständnis  von Toleranz, die keinen Wert an sich darstellt, sondern sich in der Akzeptanz des artikulierten Standpunkts messen lässt. Das wiederum setzt eine Kommunikation auf Augenhöhe voraus, die dem Wollen untersteht, das Gemeinsame herauszuarbeiten. Das ist richtig anstrengend.

 

 

 

Es muss sich etwas bewegen. Klingt das nicht allzu modern im Gegensatz zu Stillstand? Wenn sich etwas bewegt, dann läuft es rund, aber wer sich bewegt, hat auch ein Ziel. Was sind Ihre Ziele für die Schule?

 



Ich habe verschiedene Felder: Ich habe das Feld der öffentlichen Schulen, in denen wir als Erzbistum Köln mit dem Religionsunterricht über Lehrerinnen/Lehrer und religiöse Themen präsent sind. Ich denke auch an die öffentlichen Bekenntnisschulen, in denen Kirche mit Profil und Prägekraft präsent ist. Ich denke dabei an die eigenen Erzbischöflichen Schulen, die in unserem Verständnis eine deutliche Marke setzen, weil hier Kirche ist und wirkt. Ich denke an die Hochschulgemeinden und die Hochschulpastoral. Das sind die drei großen Felder, ergänzt durch den Bereich der Lehrerfortbildung.


Das Entscheidende ist für mich, Gott als Thema in allen Schulen präsent zu halten. In den vergangenen Jahren habe ich für eine zivilgesellschaftliche Stiftung gearbeitet. Hier habe ich als Theologin gemerkt, wie wenig selbstverständlich das Reden von und über Gott und wie herausfordernd das Gespräch in einer säkularen Gesellschaft geworden ist.
Die Gretchenfrage, wie wir es eigentlich mit der Religion halten, gehört über das Grundgesetz zu unserem weltanschauungsneutralen Staat eigentlich dazu, ist aber nicht mehr selbstverständlich. Religion ist für viele Menschen kein öffentliches Thema.



Dies gilt für die öffentlichen Schulen. Was erwartet die Erzbischöflichen Schulen?

 

 

In den Erzbischöflichen Schulen haben wir haben die große Stärke und das Potenzial, Schule in einem christlichen und katholischen Sinn zu prägen. Es ist eine Bildungsqualität, den Menschen als Ganzheit im Blick zu halten. Für mich als Christin und Katholikin ist es eine Lebensüberzeugung, dass Gott „Ja“ zu mir und zu jedem Menschen sagt. Diesem Ja zu glauben und es ernst zu nehmen, ist meine Aufgabe als Mensch. In Kenntnis all unserer Stärken und Schwächen sagt Gott Ja und schickt uns auf den Weg, unsere Stärken zu leben und mit den Schwächen umzugehen. Katholische Schulen sind der Ort, an denen dies ernst genommen wird. Ernst genommen mit dem Blick auf die Fähigkeiten und die Freiheit, die jeder hat, aber auch mit Blick auf die Verantwortung füreinander.



Ich verstehe Sie so, katholische Schulen weiter verorten zu wollen, weil nur das Bewusstsein des eigenen Ortes garantiert, Fremde willkommen heißen zu können. Ist das richtig?

 

 

Ja, all die Punkte, die wir vorher angesprochen haben, nämlich mich selbst zu bewegen, auf jemanden zuzugehen, Respekt und Anerkennung zu leben, tolerant zu sein, funktionieren nur, wenn ich einen Selbststand habe, und wir haben diesen Selbststand als Christen.



Dennoch darf man auch Angst vor dem Fremden haben?

 

 

Ich möchte nicht ignorieren, dass es dieses Befremden gibt. Aber ich möchte nicht, dass aus diesem Befremden eine Haltung folgt, die den anderen ausschließt, ihm Rechte abspricht oder gewalttätig wird. Ich will keine Starre und keine Selbstverteidigung, die in einem eigenen Schwachsein gründet. Wenn ich mir Jugendliche und Erwachsene anschaue, wie sie darum ringen, wer sie eigentlich sind und was sie ausmacht, dann gibt es eine große Bereitschaft, projektiv zu handeln, um sich zu verteidigen. Hierbei konstituiert sich Identität über die Abgrenzung.



1961 schrieb der Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan, dass die visuelle, individualistische Druckkultur bald durch eine sogenannte elektronische gegenseitige Abhängigkeit abgelöst werde. In dieser Periode werde die Menschheit vom Individualismus und der Trennung abrücken und eine kollektive Identität auf Stammesbasis annehmen. McLuhan nannte diese Sozialstruktur „Globales Dorf“. In derselben Geschwindigkeit, mit der die Welt zusammenrückte, nahmen jedoch offenbar auch die Abwehrhaltungen und Abgrenzungen zu Fremden immer mehr zu. Dies ist doch sehr gegenläufig.

 

 

Dem kann ich leider nur zustimmen.

 

 

Sie sind in doppelter Hinsicht, wenn ich das so sagen darf, als neue Kraft jung – und in diesem Kontext überraschend weiblich – als Fremde hinzugekommen. Hatten Sie Angst?

 


Ich hatte Respekt, und das ist auch angezeigt. Es ist eine große Aufgabe. Ich übernehme eine große Verantwortung für sehr, sehr viele Menschen, und davor habe ich Respekt. Aber ich hatte keine Angst, weil Angst kein guter Ratgeber ist. Ich versuche meine Aufgabe kennenzulernen. Es gibt Sachen, die ich weiß, es gibt Sachen, die ich nicht weiß. Bei den Sachen, die ich nicht weiß, frage ich nach und sage deutlich, dass ich lerne. Dies geht mal schneller, mal langsamer. Manchmal mache ich Fehler, manchmal läuft etwas gut. Ich kann mich aber hier darauf verlassen, lernen zu dürfen. Dieses Zutrauen wird mir hier in Köln geschenkt. Dies ist eine wunderbare Situation in der Hauptabteilung Schule/ Hochschule, in der es um Lernen und Leben geht.

 

 

 

 Das Interview führte Olaf Gruschka