Die Verhältnisse haben sich umgekehrt
Es muss bedacht werden, dass alle Bilder/Fotografien mediale Annahmen von etwas sind, das es zu verstehen gilt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass sich das Verhältnis von „Verstehen“ einerseits und der Technik des Abbildens andererseits längst umgekehrt hat. Die soziale Wirklichkeit hinkt der technischen Entwicklung hinterher, und auch die Schule vermag zwar diesen Prozess nicht mehr umzukehren, muss sich ihm aber nicht bedingungslos ergeben. Die technischen Mittel der Fotografie hatten zunächst eine arbeitsentlastende Funktion. Die Mittel beziehen sich auf Maschinen, Automaten und Instrumente, die Wirklichkeit als Abbild vorrätig hielten, um sie zu dokumentieren, zu analysieren und zu verbessern. Sie waren Beweis, Erinnerung und Dokument.
(In einem Aufsatz zu den praktischen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ((erörtert Habermas 1963 ...)) (Habermas, Theorie und Praxis, Sozialphilosophische Studien, dritte Auflage 1982, Frankfurt a. M., Seite 336 ff.)
Technische Mittel hätten lange Zeit die Organleistungen des Menschen verstärkt, und wenn sie nicht mehr mit dem Energievorrat des Menschen arbeiteten, dann, so Habermas, waren sie in der Lage, die Organe zu ersetzen. Die Technik des neuen Stils, so Habermas, basiere auf einer neuen Grundlage. Hier würden nicht mehr sensorische Leistungen ersetzt, sondern die Intelligenz und Organleistungen in selbstregulierenden Kreisläufen. Es geht bei der Fotografie nicht mehr um ein Abbild einer Person, sondern das Abbild wird mit einer Vielzahl von Zusatzinformationen angereichert und in ein sich selbst regulierendes Netz eingespeist. Diese kybernetischen Anlagen/Netze arbeiten nicht nach starren Programmen, sondern entwickelten in der Anpassung an variable Umweltbedingungen selbstständig neue Strategien.
Wir leben längst unter der Herrschaft der Algorithmen selbstregulativer Systeme.
Die Technik des neuen Stils nehme dem Menschen nicht nur seine Operationen, sondern auch seine Kontrollleistungen ab. Mit der neuen Technik könne sich, so Habermas, der Mensch als Homo Faber erstmalig vollkommen ersetzen und damit objektivieren und den in seinen Produkten verselbstständigten Leistungen instrumentaler Handlungen auch gegenübertreten. Über diese Stufe der vollständigen Automatisierung hinaus könne es keine weitere Entwicklung der Technik geben, denn es seien keine weiteren Bereiche des Menschen objektivierbar.
Bei der heutigen Technik und heutigen Ventilationsorganen, die allgegenwärtig und von jedem einfach zu bedienen sind, mutiert die Personenfotografie zur erkennungsdienstlichen Behandlung, die unter Auslassung der StPO ohne jede richterliche Anordnung praktiziert wird. Die Grenzüberschreitung zu den Belangen der Strafprozessordnung verwundert aber kaum, ist doch die Technik des Smartphones nichts anderes als eine Fußfessel, die freiwillig getragen wird.
Wer hat die erkennungsdienstliche Behandlung angeordnet?
Voraussetzung einer jeden erkennungsdienstlichen Behandlung nach der StPO ist, dass der Betroffene einer Straftat beschuldigt wird. Wer nur verdächtig ist, von den Strafverfolgungsbehörden aber noch nicht als Beschuldigter eingestuft wird, kann nicht nach § 81b StPO erkennungsdienstlich behandelt werden. Angeordnet werden können dann allenfalls Maßnahmen zur Identitätsfeststellung nach § 163b StPO.
Ikonoklasmus als Reflexionsschleife
Unter der Prämisse eines nicht mehr kontrollierbaren Bildes hat das beinahe alttestamentarische Bilderverbot der neuen EU-Verordnung die Zeichen der Zeit erkannt und setzt zumindest einen Reflexionsprozess in Gang. Wir lesen Iphigenie in der Schule als Musterbeispiel kommunikativer Kompetenz und Gegenmodell einer gewaltbesessenen Götterordnung und lassen gleichzeitig die autokratische Bildgewalt kleinster Aufnahmegeräte gewähren, obwohl jeder zustimmen wird, dass das erstellte Bild als Membran und Interpretation, nicht nur in der Datenerhebung, einen allgegenwärtigen Herrschaftsanspruch darstellt. Konnotierten Wissenschaft und Technik einst „Befreiung von“ und Erleichterung und standen beide unter der Herrschaft der kommunikativ miteinander vernetzten Subjekte, dann ist diese ehemalige Hilfestellung und Befreiung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Der Mensch tritt nicht mehr nur der Technik gegenüber, sondern er wird in die Technik integriert. Es ergeben sich Maschine-Mensch-Systeme, die nicht mehr der Mensch steuert. Die wachsenden Reichweiten technischer Verfügungsgewalt bleiben aber nur dann unproblematisch, wenn der technisch-wissenschaftliche Fortschritt im Willen und Bewusstsein der miteinander herrschaftsfrei kommunizierenden Subjekte festgemacht wird und sich nicht weiter selber automatisiert.
Die beinahe reflexartige Fotografie
Hier wird eine Zäsur im Sinne der Selbstbestimmung erforderlich. Die beinahe reflexartige Fotografie im Alltag markiert einen Herrschaftsanspruch, den es zu hinterfragen gilt. Dieser Vorgang, der die materielle Grundlage einer modernen Informationsgesellschaft darstellt, arbeitet aber nicht nach den koordinierten Plänen handelnder Subjekte. Die Bewusstmachung des seit 1907 gültigen Kunsturhebergesetzes, das das Recht am eigenen Bild auf der Basis eines politischen Wollens freier Subjekte immer schon regelte, ist angezeigt und steht spätestens seit der Digitalisierung der Fotografie im Konflikt mit dem DSGVO, das schon die unabgesprochene Herstellung einer Fotografie infrage stellt. Eine erzieherische Rationalisierung des Bewusstseins über persönliche Datenhoheit kann nur von Verhältnissen erhofft werden, die – wie Iphigenie es vorlebte – den Machtanspruch der Interpretation im Bild an Dialoge gebundenes Denken begünstigen.
Wir müssen über das zu erstellende Bild im Vor- und Nachhinein miteinander sprechen. Iphigenie wusste es bereits
Olaf Gruschka