DSGVO & Iphigenie

DSGVO Iphigenie hätte sie gut gefunden...

Reflexartige Fotografie

Umkehr

BILDER HABEN KEINE WAHRHEIT

Fotografie Bildnis

Essay zur DSGVO I/II

Iphigenie hätte sie gut gefunden..

Mit den neuen Regularien zum Datenschutz geht hinsichtlich der Fotografie ein Schreckgespenst durch die Schulen, weil jedes Foto eine genuine Datenschutzverletzung darstellt. Dies gilt insbesondere für die digitale Fotografie, die simultan zur Auslösung GPS-Daten, Uhrzeit und Kameraeinstellungen speichert, prinzipiell die Bilder in einer Cloud ablegen kann oder auch per Bluetooth die Bilder mit anderen Nutzern teilt. Bei einer standardisierten Bildrate von bis zu 30 Bildern in der Sekunde wird jedes koordinierende Bewusstsein ausgeschaltet, zumindest nachgeschaltet. Einst verfügte man über einen Filmstreifen mit 12, 24 oder 36 Bildnegativen, den es zu belichten galt. Man überlegte jede Einstellung vor der Auslösung. Die Erstellung eines Lichtbildwerks war ein bewusster Akt, der in der Dunkelkammer ans Licht gebracht wurde. Nicht immer war die so ans Licht gebrachte Fotografie eine wirkliche Konkurrenz für das zuvor erlebte Bild. Es bedurfte komplexer Vorbereitungen oder eines glücklichen Augenblicks, um sich mit fundiertem Wissen zur Technik des Fotografierens an die Wirklichkeit des Gesehenen heranzutasten.
Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt.

Alle Wahrnehmung ist eine Annahme

In dem Maße, wie die Fotografie ihren dokumentarisch beweisfähigen Charakter des Bildnegativs verloren hat, tritt sie nicht nur an die Stelle der Wahrnehmung, sondern verweist die Wahrnehmung auf Sachverhalte, die zuvor gar nicht wahrgenommen wurden.
Man fotografiert nicht nur schneller, als es die Trägheit des menschlichen Auges zulässt, sondern entdeckt in der Dunkelheit eine sonst nicht wahrnehmbare Farbbrillanz im Tele- wie im Makrobereich. Die bewusste Wahrnehmung folgt nicht mehr aufwendiger Vorbereitung, sondern ergibt sich in der Nachbetrachtung der mechanisierten Wahrnehmung, die niemals unserem Sehen entspricht. Hier die Apparatur, dort das menschliche Sehen. Im Gebrauch der Apparatur ereignet sich bereits die Datenschutzverletzung, die weder Auge noch Geist registrieren . Das gilt für Auto-, Ampel-, Radar-, Satelliten- und jede Form von Überwachungskameras. Die optischen Kameraprothesen für mangelnde Sehfähigkeit sind längst entwickelt. 


Wir reden über Fotografien. Fotografien sind Bilder, die wahrgenommen werden wollen.


Genau genommen gibt es aber keine „Wahrnehmung“. Alles, was wir „für wahr nehmen“, bleibt doch nur ein Annehmen, eine Hypothese, die sich erst zu bewähren hat. Nur hat die menschliche Wahrnehmung in der vertrauten Umwelt so viele Überprüfungsmöglichkeiten, dass uns die fließenden Grenzen zwischen Sehen, Deuten und bloßem Raten noch viel weniger bewusst werden als im Falle des Bilderlesens von Fotografien.

Haben Bilder im philosophischen Sinn überhaupt einen Wahrheitsgehalt?

Bilder sind Repräsentanten in dem Sinne, dass sie, wie andere Repräsentationssysteme auch, etwas wiedergeben, was sie nicht selbst sind. Was etwas wiedergeben will, kann aber nicht selbst das sein, was es wiedergibt. Bilder können nicht die Wahrheit sein, sie könnten sie vielleicht repräsentieren, aber auch das kann ich mir – zumindest unter platonischen Prämissen – nicht vorstellen.
Würde Sokrates die Frage stellen, „Was ist ein Bild?“, und man würde antworten, es gebe Bilder in Museen, im Gehirn, Bildnisse, Wunsch- und Zerrbilder, langsame Bilder, reale Bilder, fiktive Bilder, Bilder im Internet und im Familienalbum, dann wäre Sokrates unmerklich enttäuscht. Weil man  eine Reihe von Beispielen, aber keine Definition geliefert hätte. In diesem Sinne ist es angezeigt, als Gattungsbegriff für das Bild den Begriff des Mediums anzunehmen. Bilder sind Medien in dem Sinne, dass sie, wie andere Medien auch, etwas wiedergeben, was sie nicht selbst sind, selbstverständlich ohne dass in dieser Bestimmung irgendeine Vorentscheidung über den ontologischen Status des Wiedergegebenen impliziert ist.

Gerhard Richter: „Bilder stellen etwas dar, was sie nicht sind“. RP vom 07.07.18

Allgemein gilt ja: Was etwas wiedergeben will, kann nicht selbst das sein, was es wiedergibt. Also sind Medien von dem, was sie wiedergeben, verschieden; und sobald Medien wahrgenommen werden, stehen sie gleichsam in der Mitte zwischen dem Wiedergegebenen und dem Wahrnehmenden: Auf eben diese Mittelstellung verweist ja, nebenbei, auch der Begriff des Mediums (medium = das Mittlere). Das wiederum hat zur Folge, dass Medien niemals vollkommen transparent in Bezug auf das Wiedergegebene sein können, dass sie sich vielmehr an irgendeiner Stelle selbst, d. h. in ihrer eigenen Beschaffenheit, ins Spiel bringen.
Jedes Medium stellt sich in spezifischer Weise zwischen das Wiedergegebene und den Wahrnehmenden. „Nichts“, so Eduard in den Wahlverwandtschaften, „ist bedeutsamer als die Dazwischenkunft eines Dritten“. Der Dritte ist der Interpret, ein Schleiermacher, der mit Machtanspruch dazwischentritt.

 

Bilder haben keinen Wahrheitsgehalt

Bilder haben keinen Wahrheitsgehalt. Sie sind bestenfalls eine Membran, die im platonischen Sinn, wider besseres Wissen, etwas vorgaukeln. Bilder sind Konstruktionen der Wirklichkeit, die dem sehenden Subjekt unterstellt sind, oder Ergebnisse einer mechanischen Apparatur, die uns bereits glauben lässt, unser Sehfeld sei rechtwinklig. Weit gefehlt, mit einem Auge können wir nur rund sehen und mit beiden ellipsoid. Ich will aber nicht so weit gehen und sagen, Bilder seien per se eine justiziable üble Nachrede, weil sie immer an der Wahrheit vorbeigehen. Im Bereich Schule muss man aber insbesondere den Aspekt des medialen Seins der Bilder im Blick halten, weil Bilder als Konstruktion immer eine Aussage über die, den, das Abgebildete/n bekunden. Hierüber muss ein kommunikatives Einverständnis hergestellt werden. Iphigenie wusste es immer schon und brillierte mit herrschaftsfreiem Diskurs. Sie erzielte Einigkeit ohne jede weitere Manipulation. In den Schulen kann kein fotografisch manipulativer Herrschaftsdiskurs gelten, sondern angezeigt ist ein kommunikatives Handeln. Dazu gehört eine Verständigung über Fotografien, die erstellt werden, um sich gemeinsam der möglichen Wahrheit zu nähern. Zumindest gilt dies, wenn Personen abgebildet werden und ihre Daten betroffen sind. Mitunter geht dies nur mit Einbezug der Erziehungsberechtigten und immer im Miteinander mit den Abgelichteten.

Das Foto/Bild ist Medium und nicht Objekt des Wissens. Als Medium kann es nicht identisch mit dem Wiedergegebenen sein, sondern es enthält interpretative Eigenanteile des Fotografen, über die es sich mit den Abgebildeten oder deren Erziehungsberechtigten im Vor- und Nachfeld zu verständigen gilt.

Die Verhältnisse haben sich umgekehrt

Es muss bedacht werden, dass alle Bilder/Fotografien mediale Annahmen von etwas sind, das es zu verstehen gilt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass sich das Verhältnis von „Verstehen“ einerseits und der Technik des Abbildens andererseits längst umgekehrt hat. Die soziale Wirklichkeit hinkt der technischen Entwicklung hinterher, und auch die Schule vermag zwar diesen Prozess nicht mehr umzukehren, muss sich ihm aber nicht bedingungslos ergeben. Die technischen Mittel der Fotografie hatten zunächst eine arbeitsentlastende Funktion. Die Mittel beziehen sich auf Maschinen, Automaten und Instrumente, die Wirklichkeit als Abbild vorrätig hielten, um sie zu dokumentieren, zu analysieren und zu verbessern. Sie waren Beweis, Erinnerung und Dokument.
(In einem Aufsatz zu den praktischen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ((erörtert Habermas 1963 ...)) (Habermas, Theorie und Praxis, Sozialphilosophische Studien, dritte Auflage 1982, Frankfurt a. M., Seite 336 ff.)
Technische Mittel hätten lange Zeit die Organleistungen des Menschen verstärkt, und wenn sie nicht mehr mit dem Energievorrat des Menschen arbeiteten, dann, so Habermas, waren sie in der Lage, die Organe zu ersetzen. Die Technik des neuen Stils, so Habermas, basiere auf einer neuen Grundlage. Hier würden nicht mehr sensorische Leistungen ersetzt, sondern die Intelligenz und Organleistungen in selbstregulierenden Kreisläufen. Es geht bei der Fotografie nicht mehr um ein Abbild einer Person, sondern das Abbild wird mit einer Vielzahl von Zusatzinformationen angereichert und in ein sich selbst regulierendes Netz eingespeist. Diese kybernetischen Anlagen/Netze arbeiten nicht nach starren Programmen, sondern entwickelten in der Anpassung an variable Umweltbedingungen selbstständig neue Strategien.
Wir leben längst unter der Herrschaft der Algorithmen selbstregulativer Systeme.
Die Technik des neuen Stils nehme dem Menschen nicht nur seine Operationen, sondern auch seine Kontrollleistungen ab. Mit der neuen Technik könne sich, so Habermas, der Mensch als Homo Faber erstmalig vollkommen ersetzen und damit objektivieren und den in seinen Produkten verselbstständigten Leistungen instrumentaler Handlungen auch gegenübertreten. Über diese Stufe der vollständigen Automatisierung hinaus könne es keine weitere Entwicklung der Technik geben, denn es seien keine weiteren Bereiche des Menschen objektivierbar.
Bei der heutigen Technik und heutigen Ventilationsorganen, die allgegenwärtig und von jedem einfach zu bedienen sind, mutiert die Personenfotografie zur erkennungsdienstlichen Behandlung, die unter Auslassung der StPO ohne jede richterliche Anordnung praktiziert wird. Die Grenzüberschreitung zu den Belangen der Strafprozessordnung verwundert aber kaum, ist doch die Technik des Smartphones nichts anderes als eine Fußfessel, die freiwillig getragen wird.

 

Wer hat die erkennungsdienstliche Behandlung angeordnet?

Voraussetzung einer jeden erkennungsdienstlichen Behandlung nach der StPO ist, dass der Betroffene einer Straftat beschuldigt wird. Wer nur verdächtig ist, von den Strafverfolgungsbehörden aber noch nicht als Beschuldigter eingestuft wird, kann nicht nach § 81b StPO erkennungsdienstlich behandelt werden. Angeordnet werden können dann allenfalls Maßnahmen zur Identitätsfeststellung nach § 163b StPO.

Ikonoklasmus als Reflexionsschleife

Unter der Prämisse eines nicht mehr kontrollierbaren Bildes hat das beinahe alttestamentarische Bilderverbot der neuen EU-Verordnung die Zeichen der Zeit erkannt und setzt zumindest einen Reflexionsprozess in Gang. Wir lesen Iphigenie in der Schule als Musterbeispiel kommunikativer Kompetenz und Gegenmodell einer gewaltbesessenen Götterordnung und lassen gleichzeitig die autokratische Bildgewalt kleinster Aufnahmegeräte gewähren, obwohl jeder zustimmen wird, dass das erstellte Bild als Membran und Interpretation, nicht nur in der Datenerhebung, einen allgegenwärtigen Herrschaftsanspruch darstellt. Konnotierten Wissenschaft und Technik einst „Befreiung von“ und Erleichterung und standen beide unter der Herrschaft der kommunikativ miteinander vernetzten Subjekte, dann ist diese ehemalige Hilfestellung und Befreiung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Der Mensch tritt nicht mehr nur der Technik gegenüber, sondern er wird in die Technik integriert. Es ergeben sich Maschine-Mensch-Systeme, die nicht mehr der Mensch steuert. Die wachsenden Reichweiten technischer Verfügungsgewalt bleiben aber nur dann unproblematisch, wenn der technisch-wissenschaftliche Fortschritt im Willen und Bewusstsein der miteinander herrschaftsfrei kommunizierenden Subjekte festgemacht wird und sich nicht weiter selber automatisiert.

 

Die beinahe reflexartige Fotografie

Hier wird eine Zäsur im Sinne der Selbstbestimmung erforderlich. Die beinahe reflexartige Fotografie im Alltag markiert einen Herrschaftsanspruch, den es zu hinterfragen gilt. Dieser Vorgang, der die materielle Grundlage einer modernen Informationsgesellschaft darstellt, arbeitet aber nicht nach den koordinierten Plänen handelnder Subjekte. Die Bewusstmachung des seit 1907 gültigen Kunsturhebergesetzes, das das Recht am eigenen Bild auf der Basis eines politischen Wollens freier Subjekte immer schon regelte, ist angezeigt und steht spätestens seit der Digitalisierung der Fotografie im Konflikt mit dem DSGVO, das schon die unabgesprochene Herstellung einer Fotografie infrage stellt. Eine erzieherische Rationalisierung des Bewusstseins über persönliche Datenhoheit kann nur von Verhältnissen erhofft werden, die – wie Iphigenie es vorlebte – den Machtanspruch der Interpretation im Bild an Dialoge gebundenes Denken begünstigen.


Wir müssen über das zu erstellende Bild im Vor- und Nachhinein miteinander sprechen. Iphigenie wusste es bereits

Olaf Gruschka